Update zur aktuellen Lage in Tschetschenien

Am 01. April berichtete die unabhängige russische Tageszeitung Novaya Gazeta erstmals darüber, dass in Tschetschenien, eine autonome Teilrepublik Russlands, über 100 vermeintlich schwule Männer im Rahmen einer koordinierten Aktion entführt worden sind. Die Männer wurden massiv gefoltert, anderweitig misshandelt und gezwungen, die Namen weiterer ihnen bekannter Schwuler preiszugeben. Zahlreiche von ihnen wurden ermordet, viele weitere in geheimen Gefängnissen festgehalten. In der Zwischenzeit dürfte die Zahl der entführten, gefolterten und ermordeten Männer deutlich höher liegen.

Berichten zufolge wurden einige der Entführten zu ihren Familien zurückgebracht. Sie sind aufgrund der in Tschetschenien weit verbreiteten Homosexuellenfeindlichkeit jedoch weiterhin in grosser Gefahr. Einige Männer wurden nach der Rückkehr zu ihrer Familie von dieser ermordet, anderen gelang die Flucht. Mitglieder der NGO «Russisches LGBTI-Netzwerk» haben diese Informationen bestätigt und eine telefonische Hotline eingerichtet, um denjenigen zu helfen, die sich ausserhalb Tschetscheniens in Sicherheit bringen wollen.

Die Reaktionen der tschetschenischen Behörden auf die Enthüllungen verraten einiges: Alvi Karimov, Pressesprecher von Präsident Ramsan Kadyrow, liess verlauten: «Man kann keine Personen verhaften oder unterdrücken, die in der Republik nicht existieren. Falls solche Menschen in Tschetschenien existieren würden, hätten ihre Verwandten sie an einen Ort geschickt, von dem sie nicht zurückkehren können.» Auch die russischen Behörden zeigten sich zynisch: Sie empfahlen den Opfern, doch einfach eine Beschwerde oder eine Anzeige bei den lokalen Behörden zu machen – also dort, von wo die Verfolgung ausgeht. Eine Verurteilung der Verfolgungen vonseiten Russlands lässt nach wie vor auf sich warten.

Der Rest der Welt hingegen reagierte deutlich: Mehrere Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder All Out haben Protestpetitionen lanciert und den russischen Botschaften übergeben. Aktivist_ innen weltweit haben demonstriert, das Europäische Parlament hat eine Resolution verabschiedet und einige Regierungen haben die Verfolgung öffentlich angeprangert.

Die russischen Behörden ihrerseits haben eine Voruntersuchung zu den Berichten über die Verfolgung homosexueller Männer eröffnet. Bei ihrem ersten, angemeldeten Besuch vor Ort war das Foltercamp jedoch bereits verschwunden und die Opfer verschleppt. Darauf erklärte Russland, man könne die Vorfälle nicht bestätigen. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen verlangen daher von den russischen Behörden nach wie vor, eine vollständige Strafuntersuchung durchzuführen und alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Sicherheit von potenziell gefährdeten Personen in Tschetschenien zu gewährleisten.

Zeugenaussagen belegen die Gewalt zweifelsfrei

Den dementierenden Aussagen Russlands und Tschetscheniens steht eine Vielzahl an Zeugenaussagen von Opfern gegenüber, welchen die Flucht gelang und die teilweise im Ausland Asyl erhalten haben. Diese belegen die Gewalt zweifelsfrei. Ende Juli hat das «Russische LGBTI-Netzwerk» ausserdem mitgeteilt, dass über 130 Unterstützungsanfragen bei ihm eingegangen seien. Die NGO hat mehr als 60 Überlebende evakuiert und ihnen zur Flucht verholfen. Sie unterstützt sie mit Unterkunft, Gütern des täglichen Bedarfs sowie psychologischer, medizinischer und rechtlicher Hilfe. Die Opfer bestätigten nochmals, dass die tschetschenischen Behörden direkt in die Verfolgungen, Inhaftierungen, Folterungen und Ermordungen involviert waren. Mittlerweile liegt auch ein ausführlicher Bericht des «Russischen LGBTI-Netzwerks» vor, der über diese Verfolgungswelle wie auch über die alltägliche Situation für homosexuelle Menschen – auch Lesben – in Tschetschenien berichtet und diese in einen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang stellt (https://lgbtnet.org/sites/default/files/final_chechnya_publish_0.pdf).

Es ist unbekannt, wie viele Männer noch inhaftiert sind. Klar ist aber, dass die Verfolgungen weitergehen. Sei es durch die Behörden (beispielsweise durch Strafverfolgungen), die Polizei (häufig mit Erpressungen) oder Verwandte in Form von «Ehrenmorden». Umso wichtiger ist es, den Druck international aufrechtzuerhalten, damit Hetzjagd, Folter und Mord aufhören, die Gefangenen freigelassen, unabhängige Untersuchungen eingeleitet, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden – und die Opfer Schutz erhalten. Zudem sind alle demokratischen Staaten aufgefordert, den Opfern homophober Verfolgung schnell und unkompliziert Asyl zu gewähren.