Der Widerstand gegen LGBTQI*-Anliegen hat in der westlichen Welt in letzter Zeit zugenommen. Auch in der Schweiz wird gegen «Woke-Wahnsinn und Gender-Gaga» mobil gemacht. Der prominente Politanalyst Michael Hermann erklärt, weshalb das funktioniert – und wie die queere Bewegung dennoch weitere Fortschritte machen kann.

 

Queere Rechte haben in den letzten 25 Jahren in der westlichen Welt enorme Fortschritte gemacht. Ist das der Grund für den Backlash, den wir derzeit fast überall beobachten? War es quasi unvermeidlich, dass das passiert?

Unvermeidlich nicht. Aber der Erfolg der queeren Bewegung hat dazu geführt, dass sich auch die Forderungen verändert haben. Viele der früheren Anliegen sind inzwischen erfüllt, Lesben und Schwule können heiraten, Kinder haben, sind weitgehend gleichberechtigt. Das führte zu neuen, weiter gehenden Forderungen – und zu neuen Widerständen. Gleichzeitig scheinen mir die bisher erreichten Fortschritte für homo- und bisexuelle Menschen nicht in Frage gestellt; sie sind heute Teil des gesellschaftlichen Mainstreams im Westen. Backlash ist deshalb vielleicht nicht der richtige Begriff.

Widerstand gibt es also vor allem gegenüber den anderen Gruppen, die unter dem LGBTQI*-Label aktiv sind?
Trans oder non-binäre Menschen sind für viele noch relativ neue Themen. Die noch dazu vermeintliche Gewissheiten zum Geschlecht ganz grundsätzlich in Frage stellen. Das provoziert, ähnlich wie Homosexualität in den 1980er-Jahren. Zudem haben sich diese Themen mit der Kulturkampfdebatte um Wokeness vermischt, was zusätzliche Widerstände auslöst.

«Plötzlich gibt es ein «richtig» oder «falsch», das jeden im Alltag betrifft. Dass das bei einigen Leuten Widerstand weckt, sollte eigentlich nicht überraschen.»

Ich höre inzwischen auch von Leuten in meinem queeren Umfeld, wir hätten es «halt übertrieben» mit unseren Forderungen – diese seien einfach zu aggressiv mit ihren Sprachvorschriften und Identitätskapriolen. Wie nimmst du das wahr?

Das hat schon was. Es hat sich nämlich auch die Art der Forderungen verändert. Früher warb die queere Bewegung um Toleranz und Akzeptanz, versuchte Empathie für eine andere Art der Liebe zu wecken. Was sie wollte, betraf vor allem sie selbst, es verlangte wenig Veränderungen von allen anderen. Das ist heute anders. Plötzlich soll man etwa seine Sprache anpassen, um mit dem Genderstern auch jene Menschen einzubeziehen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen. Plötzlich gibt es ein «richtig» oder «falsch», das jeden im Alltag betrifft. Es wird viel stärker moralisch argumentiert – das war ja früher eher die Spezialität der Kirche. Dass das bei einigen Leuten Widerstand weckt, sollte eigentlich nicht überraschen.


Michael Hermann (52) leitet das Forschungsinstitut Sotomo und unterrichtet «Geografie der Schweiz» an der Universität Zürich. Der Politgeograf lebt mit seiner Partnerin in Zürich.(Bild: zVg)


Also übertreiben wir es tatsächlich?

Der Wunsch, der dahintersteht, ist überhaupt nicht übertrieben. Viele Betroffene leiden unter der aktuellen rechtlichen und gesellschaftlichen Situation rund um Geschlechtsidentität. Es braucht rechtliche Verbesserungen und mehr gesellschaftliche Freiräume. Ich halte aber tatsächlich einen Teil der aktuellen Methoden für kontraproduktiv. Moralisch aufgeladene Forderungen, die «korrektes» Verhalten verlangen, erzeugen Gegenenergie, die nicht nötig wäre. Das Erreichen der Ziele wird so eher erschwert, weil einige finden, dass der geforderten Toleranz nicht mit Toleranz begegnet wird. Es zeigt sich hier aber auch ein gewisser Generationenkonflikt.

In welcher Form?
Es gibt in der queeren Bewegung inzwischen die Etablierten, die alte Garde, die es geschafft hat und quasi «verbürgerlicht» ist. Das sind die ersten drei Buchstaben LGB. Und dann gibt es die Neuen, die noch nicht so lange dabei sind und noch um ihre Anerkennung kämpfen müssen. Und das teils auch mit anderen Methoden tun. Diese Differenzen kann man auch bei älteren Feministinnen beobachten, die sich sorgen, dass bei rechtlichen Veränderungen im Bereich der Geschlechtsidentität der Schutz von Frauen aufgeweicht wird.

«Ich sehe wenig Risiko, dass der politische Backlash in den USA nach Westeuropa schwappt.»

Worin siehst du die Gründe für den Erfolg der queeren Bewegung?

Es hat sicherlich auch mit der Zeit zu tun, in der er erreicht wurde. In der westlichen Welt herrschte Friede und Stabilität, es gab wirtschaftliche Aufstiegsperspektiven. Dahinter steht aber auch ein seit dem Mittelalter fortschreitender Zivilisationsprozess. Zuerst begann sich der Umgang zwischen Frau und Mann zu verändern, dann begann dasselbe mit den Werten und dem Umgang mit Sexualität. Ich glaube auch nicht, dass das nun plötzlich aufhört.

Aber derzeit ist die Welt eher instabil, viele machen sich auch wirtschaftliche Sorgen.
Das ist für Fortschritte in diesem Bereich tatsächlich nicht förderlich. Es stehen grundsätzlichere, materielle Sorgen im Vordergrund. Postmaterielle, progressive Anliegen sind in solchen Phasen weniger mehrheitsfähig.

Nochmals zurück zum Backlash: In den USA stehen dabei längst nicht mehr nur trans Menschen oder Dragqueens im Fokus. Es gibt inzwischen Bundesstaaten, an denen queere Themen an Schulen nicht mehr erwähnt werden dürfen und entsprechende Literatur aus den Bibliotheken verbannt wird. Das trifft auch LGB-Menschen. Und wird von der republikanischen Partei nun breit kopiert, in der Hoffnung auf zusätzliche Stimmen.
Stimmt, aber das sind die USA, wo die Politik anders läuft als in Westeuropa. Der Einfluss der Evangelikalen ist viel grösser, speziell auf die Republikaner*innen. Hinzu kommt die enorme Polarisierung, die den Kulturkampf um Woke-Themen viel schärfer macht – auf beiden Seiten. Und tatsächlich gibt es einen realen Backlash in den Bundesstaaten, in denen die republikanische Partei an der Macht ist. Ich sehe aber wenig Risiko, dass das nach Westeuropa schwappt.

In Florida dürfen queere Themen an Schulen nicht mehr besprochen werden.


Dennoch: Seit Ron DeSantis, Gouverneur von Florida und US-Präsidentschaftskandidat, mit seinen anti-queeren Gesetzen begonnen hat, wird er von der Internationale der Rechtspopulist*innen gerne und teils durchaus erfolgreich kopiert.

Aber Putin und Orban haben mit diesen Themen doch schon lange vor DeSantis erfolgreich Politik gemacht.

Schon, aber DeSantis fokussiert auf die Schulen, also auf Kinder und Jugendliche – und deren mögliche Beeinflussung oder gar «Rekrutierung». Funktioniert die queerfeindliche Politik deshalb nun auch im Westen so gut?
Rund um Kinder gibt es natürlich ein ganzes Spektrum von Ängsten, da lässt sich mit so einem Thema gut anknüpfen. Gerade wenn man das Gefühl hat, die Sprösslinge kriegen in der Schule was mit, das mit den familiären Werten zu Hause kollidiert. Hinzu kommt, dass die Schule als Kampffeld in den USA traditionell beliebt ist – etwa wenn es darum geht, ob die Evolutionstheorie gelehrt werden darf oder nicht. DeSantis hat dies nun auf dieses Thema übertragen. Und weil in Florida viele Latinos leben, die mehrheitlich eher konservative Wertvorstellungen haben, hat das dort auch recht gut funktioniert.

«Es geht dabei auch um die Deutungshoheit über zentrale gesellschaftliche Themen.»

Ist es auch ein politischer Machtkampf? Die Konservativen sorgen sich, dass die Kinder in den Schulen zu stark mit liberalen Werten «infiziert» werden, was die eigenen Wahlchancen gefährdet?
Das spielt auf jeden Fall mit. Es geht dabei auch um die Deutungshoheit über zentrale gesellschaftliche Themen.

Zeigt die Aufregung rund um den «Gender-Tag» an einer Schule in Stäfa, dass es auch bei uns Potenzial für solche Interventionen gibt?
Nur bedingt, denn der Erfolg für die SVP hielt sich genau hier in Grenzen. Für mich ist das eher ein Beispiel, wo die Rechte es übertrieben hat – es gab viel Kritik, gerade auch aus bürgerlichen Kreisen. Was zeigt, dass man die US-Rezepte hier eben nicht 1:1 kopieren kann.

Genau das hat die SVP aber im Wahlkampf versucht mit ihrem Kampf gegen «Woke-Wahnsinn und Gender-Gaga».

Schon, aber es hat gedauert, bis das Thema in der Schweiz zündete. Zunächst begann es als Feuilleton-Debatte, vor allem in der NZZ. In der breiten Bevölkerung hat es da noch kaum interessiert. So richtig änderte sich das erst, als Mitte 2022 in der Brasserie Lorraine in Bern ein Reggaekonzert wegen «kultureller Aneignung» abgebrochen wurde – weil einige der weissen Musiker Rastafrisuren trugen und sich deshalb offenbar Leute im Publikum unwohl fühlten. Diese Reaktion löste eine breite Volksempörung aus, und ab dann liess sich das Thema auch politisch nutzen.

2022 herrschte grosse Aufregung um einen Konzertabbruch in der Berner Brasserie Lorraine. 


Zieht das auch über das SVP-Milieu hinaus? Und über das Drittel, das 2021 gegen die Ehe für alle gestimmt hat?

Ganz klar. Unsere Umfragen zeigen, dass diese Form von Wokeness eine Mehrheit der Leute nervt. Allerdings bin ich skeptisch, ob deswegen soviel mehr SVP wählen. Das wieder aufgeflammte Migrationsthema hat eine deutlich grössere Rolle gespielt, dass die Partei bei den Wahlen wieder zulegen konnte. Die wichtigste Triebfeder für rechte Parteien ist immer «wir gegen die Fremden». Deshalb hat auch der Versuch der SVP nicht funktioniert, den Stadt-Land-Graben zu bewirtschaften, ebenfalls ein Import aus den USA. Man nervt sich zwar über die linken Städte, aber irgendwie gehören sie halt doch dazu.

Wieviel von der politischen Bewirtschaftung dieser Themen ist reines politisches Kalkül – man macht es, weil es Stimmen bringen könnte –, wie viel ist inhaltlich tatsächlich ernst gemeint?

Auch bei der SVP ist bezüglich der Akzeptanz von Schwulen und Lesben einiges gegangen. Der offen schwule Zürcher Ex-Nationalrat Hans-Ueli Vogt war ja sogar offizieller Bundesratskandidat der Partei. Bei der Wokeness- und Genderdebatte spielt hingegen durchaus innere Überzeugung rein. Allerdings werden vor allem jene Themen politisch bewirtschaftet, die breite Empörung auslösen. Da geht es weder um Abtreibung noch um Homosexualität, sondern um Pubertätsblocker für Kinder, geschlechtsneutrale WCs, den Genderstern oder das Sprachverbot für «Mohrenkopf».

«Die Potentaten dieser Staaten fühlen sich angegriffen und bevormundet, als Männer und als Autokraten.»

In anderen Teilen der Welt hat die Opposition gegen queere Menschen nie nachgelassen. Auch in Osteuropa bleibt die Lage für sie schwierig. Weshalb ist das so?

Weil die Forderungen nach Gleichstellung anders als im Westen nicht nur aus der Gesellschaft selbst kommen, sondern von aussen an sie herangetragen werden. Das mobilisiert nicht nur die konservativen Kräfte, die keinen Wandel wollen. Da verbindet sich der klassische religiös-wertkonservative Reflex mit einem politischen anti-westlichen Impuls. Im Osten sind queere Anliegen ein Symbol für den dekadenten, verweichlichten Westen, der ihre gesellschaftliche Ordnung in Frage stellt. Deshalb ist der Widerstand auch in der Bevölkerung gut verankert.

Aber selbst Staaten, in denen das Leben für LGBTQI* schon immer schwierig war, ziehen derzeit die Schraube weiter an, etwa Uganda mit der Einführung der Todesstrafe für homosexuelle Akte – was nun andere Staaten der Region inspiriert. Wieso lässt sich dort mit immer noch mehr Härte so gut politisieren?

Die Abgrenzung vom Westen spielt auch hier eine grosse Rolle. Viele dieser Länder sind kulturell noch sehr traditionell und patriarchal. Sie halten die Erosion der klassischen Männlichkeitsidee im Westen für dekadent und degeneriert. Und gerade die Potentaten dieser Staaten fühlen sich angegriffen und bevormundet, als Männer und als Autokraten. Interessant ist auch, dass die Hauptopposition gegenüber den westlichen Werten sich von der islamischen Welt inzwischen stärker nach Russland, China und Subsahara-Afrika verlagert hat. Dieser Kultur- und Machtkampf wird tragischerweise auf dem Buckel dieser sehr verletzlichen Bevölkerungsteile ausgetragen, und es ist alles sehr aufgeladen und verhärtet.

Die Gesetze in Russland gegen queere Menschen werden immer härter.


Warum sind gerade autoritäre Regimes bei diesen Themen so aggressiv?
Das Autoritäre ist typischerweise männlich und hierarchisch, es fühlt sich dadurch besonders stark angegriffen. Ein interessanter Fall ist China, wo sich vor der Machtübernahme durch Xi Jingping in vielen Bereichen gesellschaftliche Lockerungen entwickelt hatten. Die er als klassischer Autokrat mittlerweile alle rückgängig gemacht hat. Und bei Teilen der Bevölkerung, nicht nur in China, kommen solche «starken Männer» halt immer noch an.

Religion war lange Zeit der Hauptgegner für queere Menschen. Verlagert sich das jetzt vermehrt in die Politik?

Ja, da ist eine Art Säkularisierung der Intoleranz im Gang. Die Argumente sind zwar noch ähnlich, aber nicht mehr so sehr mit Religion verknüpft. Selbst in der islamischen Welt verliert die Religion an Kraft, sie spielt heute eine deutlich kleinere Rolle als autokratische, männliche Machtpolitik – in Russland und China sowieso.

Langjährige Aktivist*innen fragen sich inzwischen besorgt, ob LGBTQI*-Rechte ihren Zenit bereits überschritten haben könnten. Derzeit geht es in weniger Ländern vorwärts als es in anderen rückwärts geht. Könnten hart erkämpfte Rechte gar wieder eingeschränkt werden in den kommenden Jahren?

Ausserhalb der demokratisch-westlichen Welt kann es tatsächlich schwieriger werden. Und auch sonst überall, wo Gesellschaften anfällig sind für Autokraten. Ist die Autokratie mal etabliert, kriegt man sie heute fast nicht mehr weg, das zeigt sich auch in Ungarn. Sie ist deshalb nicht nur der grösste Feind für queere Menschen, sondern für unseren liberalen westlichen Lebensstil insgesamt. Für die Länder mit einem hohen Individualisierungsgrad und starken demokratischen Werten hingegen bleibe ich optimistisch, da wird es auch für trans und non-binäre Menschen Fortschritte geben.

«Die queere Bewegung sollte Toleranz nicht verordnen, sondern mit positiver Überzeugungsarbeit wecken. Dann wird es auch weitere Fortschritte geben.»

Für viele junge Leute in der westlichen Welt und Teilen Asiens sind queere Menschen inzwischen recht selbstverständlich. Und progressiv denkende Heteros setzen sich ganz automatisch auch für queere Rechte ein – sie sind schlicht Teil ihres Weltbilds. Das gab es vor zehn Jahren noch kaum. Liegt darin ein Keim für Hoffnung auf weitere Fortschritte?
Ja, genau das illustriert den zivilisatorischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte. Heute sind individuelle Wege im Lebensstil breit akzeptiert. Aber das ist noch nicht bei allen angekommen. Gerade unter jungen Männern gibt es einige, die sich in ihrer Männlichkeit angegriffen fühlen, wenn sie mit queeren Menschen konfrontiert sind. Die positionieren sich dann im Kulturkampf auf der anderen Seite.

Und neigen auch eher rechtspopulistischen Parteien zu, die alle mehr oder weniger autokratische Tendenzen haben. Sind sie derzeit für queere Menschen in Westeuropa die grösste Gefahr?

Eindeutig. Wobei wir hier in der Schweiz einen gewissen Schutz haben, weil Autokratie in unserem politischen System nicht funktioniert. Anderswo in Europa hingegen besteht tatsächlich Gefahr, wenn solche Figuren an die Macht kommen. Und Westeuropa steht heute ganz klar unter Druck durch diese autoritären Tendenzen von innen und aussen. Umso mehr, falls die USA kippen, was durchaus möglich ist.

Wie kann die queere Bewegung trotz allem versuchen, weitere Fortschritte zu erreichen? Was sollte sie eher vermeiden?

Den anderen Menschen Vorschriften zu machen und diese moralisch aufzuladen. Sie sollte Toleranz nicht verordnen, sondern mit positiver Überzeugungsarbeit wecken. Also Erfolgsgeschichten zeigen, Schicksale sichtbar machen, die Menschen bei ihrer Empathie packen: Was heisst es für ein Kind, das sich in seiner Geschlechtsidentität nicht wohl fühlt? Viele Menschen haben eine hohe Sensibilität für solche Themen, man muss sie nur auf die richtige Weise ansprechen. Dann wird es auch weitere Fortschritte geben.