Nach einer Studie in Deutschland und Dänemark fordert Amnesty International ein Ende von Genitaloperationen und Hormonbehandlungen bei Inter*-Kindern und -Jugendlichen.

Genaue Zahlen gibt es nicht. Aber die amerikanische Biologin Anne Fauso-Sterling schätzte im Jahr 2000 aufgrund von Untersuchungen, dass weltweit 1,7 Prozent der Menschen nicht eindeutig männlich oder weiblich geboren werden, sondern mit einer Variation von Geschlechtsmerkmalen. Diese intergeschlechtlichen Kinder werden oft schon in jungen Jahren mittels Operationen und Hormonbehandlungen auf ein Geschlecht festgelegt. Die Kinder oder Jugendlichen selbst werden nicht gefragt, die Eltern sind oft schlecht oder gar nicht informiert.

Sandrao in Deutschland zum Beispiel wurde mit fünf Jahren mehreren Genitaloperationen unterzogen, erfuhr davon jedoch erst mit 34. «Ich wusste, dass ich anders bin, ich dachte, ich wäre eine Art Monster», sagte er_sie Amnesty International (AI) für ihre grosse Inter*-Studie in Deutschland und Dänmark. «Ich war nicht in der Lage, eine Geschlechtsidentität zu entwickeln. Ich wurde in eine weibliche Rolle gedrängt, musste Röcke tragen und lange Haare. Der Sex mit Männern war schmerzhaft, aber ich dachte, das sei normal.»

Wie Sandrao geht es vielen Inter*-Menschen: Sie werden in jungen Jahren zwangsweise auf ein Geschlecht festgelegt, mit dem sie sich später nie richtig wohlfühlen. AI hat zwischen Oktober 2015 und März 2017 in Deutschland und Dänemark Interviews mit 22 Personen geführt, Inter*-Aktivist_innen ebenso wie Eltern von Inter*. Zudem wurden 31 Fachleute aus der Medizin interviewt, die auf diesen Bereich spezialisiert sind.

Die Erkenntnisse fasst AI folgendermassen zusammen:

Menschen, die mit einer Variation von Geschlechtsmerkmalen zur Welt kommen, werden in Deutschland und Dänemark als Kinder oder Jugendliche operiert oder hormonellen Behandlungen unterzogen. Die unumkehrbaren medizinischen Eingriffe können anhaltende körperliche und psychische Schäden zur Folge haben. Sie werden oft auch in Fällen durchgeführt, in denen keine akute medizinische Notwendigkeit (Notfallmassnahme) besteht und ohne, dass die Betroffenen selbst darüber entscheiden können. Dies verletzt die Menschenrechte der Betroffenen sowohl auf körperliche Unversehrtheit als auch auf Selbstbestimmung und stellt in vielen Fällen eine Verletzung der Kinderrechtskonvention sowie weiterer internationaler Menschenrechtsstandards dar.

Die Folgen derartiger Eingriffe sind bisher nur äusserst unzureichend wissenschaftlich untersucht. Zwar gibt es in Deutschland Leitlinien dafür, wie Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale medizinisch versorgt und betreut werden sollten, diese sind jedoch nicht verbindlich. Trotzdem empfehlen Ärzt_innen Eltern in der Regel Genitaloperationen, um die Kinder schnellstmöglich zu «normalisieren» und ein eindeutig männliches oder weibliches Geschlecht zuzuweisen. Eltern von Betroffenen schilderten Amnesty, dass sie oft nicht ausreichend informiert wurden, um eine fundierte Entscheidung über den geplanten Eingriff und damit die Zukunft ihres Kindes zu treffen.

Die langfristigen Auswirkungen für die Betroffenen werden oftmals dadurch verschärft, dass auch sie selbst nur unzureichend psychosozial unterstützt und später nicht angemessen über die an ihnen vorgenommenen Eingriffe aufgeklärt werden. Viele haben beispielsweise keinen Zugang zu ihrer Krankenakte. Wenn relevante Informationen fehlen und zivilrechtlich verankerte Verjährungsfristen abgelaufen sind, ist es für Erwachsene, die als Kinder operiert wurden, fast unmöglich, eine Entschädigung für die erfahrenen Menschenrechtsverletzungen einzufordern.

AI fordert deshalb,

  1. dass sichergestellt wird, dass Krankenhäuser invasive und irreversible Genitaloperationen und Hormonbehandlungen an Kindern und Jugendlichen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale einstellen, wenn es sich nicht um Notfallmassnahmen handelt. Erst wenn die Betroffenen in der Lage sind, aussagekräftig an der Entscheidungsfindung mitzuwirken und ihre informierte Einwilligung zu geben, darf ein Eingriff durchgeführt werden.
  2. dass Personen, die das ihnen zugewiesene Geschlecht ändern möchten, ermöglicht wird, dies durch ein schnelles, transparentes und frei zugängliches Verfahren zu tun.
  3. dass Erwachsene, die einer schädlichen und unnötigen medizinischen Behandlung unterzogen wurden, Schadensersatz oder eine andere Form staatlicher Entschädigung erhalten.

Die Schweizer Inter*-Aktivist_innen Daniela Truffer und Markus Bauer von Zwischengeschlecht.org begrüssen es, dass sich AI mit dem Thema befasst und sich einmal mehr für die Menschenrechte von Inter* einsetzt. Sie hätten sich jedoch noch klarere Worte und weitergehende Forderungen gewünscht. «Wir bedauern es, dass der Bericht es versäumt, ein gesetzliches Verbot von Intersex-Genitalverstümmelungen zu fordern.» Die UNO habe genau dies kürzlich ausdrücklich getan. Zudem stufe der AI-Bericht Inter*-Genitalverstümmelungen lediglich als LGBTI-, Diskriminierungs- oder Gesundheitsangelegenheit ein statt explizit «als schädliche Praxis und Folter».

Truffer und Bauer fordern ausserdem eine Kriminalisierung oder angemessene Sanktionierung von Personen, die solche Operationen vorgenommen haben. «In der Schweiz werden Genitalverstümmelungen immer noch unverändert über die IV finanziert, selbstbestimmte Eingriffe an Erwachsenen sowie psychosoziale Unterstützung für Betroffene und Eltern jedoch nicht. Gleichzeitig leugnet der Bundesrat diese noch immer andauernden Genitalverstümmelungen hartnäckig.» Und eine vom Nationalfonds finanzierte Inter*-«Aufarbeitung» am Kinderspital Zürich habe damit begonnen, dass das Spital 80 Prozent der relevanten Krankenakten vernichtete. «Betroffene und ihre Organisationen werden auch bei diesem Projekt nicht angemessen einbezogen.»

Der Amnesty-Bericht im Detail: qai.ch/interbericht