DER NETFLIX-DOKFILM «ORIENTED» ERZÄHLT VON DEN HERAUSFORDERUNGEN, IM NAHEN OSTEN EIN SCHWULES LEBEN ZU FÜHREN – UMSO MEHR, WENN MAN EIN PALÄSTINENSER IN ISRAEL IST.

«We’re Palestines, we are queer and we are here!» So bringt es einer der Protagonisten in «Oriented» (2016) auf den Punkt. Im Zentrum des Dokfilms stehen drei junge schwule israelische Araber auf der Suche nach einer Identität, nach Orientierung – darauf spielt der Titel an: Orient und Orientierung. Die Gruppe beschliesst, in Form eines Filmes einen Beitrag zu leisten gegen die latenten homophoben Einstellungen der arabischen Gesellschaft.

Khader Abu Seif, Fadi Daeem und Naeem Jiryeshe gründen «Qambuta» Production und drehen einen ersten Videoclip zu Liebe, die sich versteckt oder zwangsverheiratet wird, zu einem non-binären Genderbewusstsein. Durch den Clip wird der britische Filmemacher Jake Witzenfeld auf die drei aufmerksam – und was aus der Zusammenarbeit des britischen Juden und der drei israelischen Araber entstand, zeigt, wie verletzbar es machen kann, anders zu sein und sich verstecken zu müssen in Tel Aviv, der Stadt, die als LGBT*-Paradies des Nahen Ostens gilt. «Jüdische schwule Jungs kommen in Scharen zu unseren Partys, aber sie schauen uns an, als wären wir ein Zoo. Und wenn sie mit einem Araber ausgehen, haben sie die Erwartung, dass er maskuliner und gut im Bett sein müsse» sagt Fadi, der kategorisch ausschliesst, jemals einen Juden zu daten.

Ausserhalb der liberalen Städte, in den Dörfern, wo die drei ihre Familien zurückgelassen haben, können sie nicht als die leben, die sie sind. Nachdem Naeems Eltern ihn ständig mit Hochzeitsplänen belagert haben, konfrontiert er sie mit der Unerfüllbarkeit ihrer Erwartungen an seine Lebenspläne. Er schreibt ihnen einen Brief, weil er sie nicht mehr anlügen will. Obwohl er grosse Angst vor ihrer Reaktion hat, geht er anschliessend mit seinen Freunden zu den Eltern und hinterlässt in seinem Zimmer den Brief. Witzenfeld und seine Crew begleiten Naeem während dieses Comingt-outs, ein Schritt, der den erwachsenen Mann viel Mut kostet.

Später begleiten die Freunde Fadi zu seinen Eltern, die ihn in gewisser Weise zu verstehen scheinen, ihm sogar den Rücken freigehalten haben. Alle sind sie berührt davon, wie vergleichsweise einfach es ihm in seinem Elternhaus gefallen ist, eine Identität zu finden, für die er keine Scham empfinden muss. Khader trifft es sehr zu erleben, wie bedingungslos Fadi von seinen Eltern geliebt wird.

Dass dieser grossgewachsene schwule Araber, für den sein politisches Selbstverständnis zentral ist, spätestens dann in eine Krise gerät, als er sich in einen jüdischen Mann verliebt, kommt nicht überraschend. «Wie kann ich jemanden lieben, der nicht findet, dass meinem Volk eine Katastrophe zugestossen ist?», fragte er und sorgt sich, er werde zu einem Heuchler. Seine Freundin argumentiert, das Leben sei nicht nur Ideologie. «Wenn Ben dich zufrieden stellt, als Mann, als Schwuler, wenn er jemand ist, der dich liebt, der dich wertschätzt, der dich respektiert… Wieso nicht?»

Schliesslich finden sich die Freunde an der Pride in Berlin wieder. Mit der Distanz zur Heimat wächst auch das Befremden über die dort herrschende Politik des Hasses. «Plötzlich merke ich, dass es ausserhalb dieses Ghettos noch ein Leben gibt», sagt Khader. Doch wenn die eigene Identität brüchig ist, weil Selbstverständliches hinterfragt werden muss, das Anders-Sein immer wieder ein Befremden vor der eigenen Gesellschaft birgt – was kann dann Orientierung bieten?

Letztlich bleibt ein einfacher Wunsch: Ein normales Leben führen als Mensch. Und ein Fazit: Du kannst Aktivist sein, aber schlussendlich ändert sich doch nichts. Ob das stimmt? Auf jeden Fall bietet «Oriented» nicht nur einen erhellenden Einblick in eine ganz andere queere Welt, es gelingt dem Film auch immer wieder, emotional zu berühren, nicht zuletzt dank der Musik, die wie die Jungs auch frech, lebendig und zugleich sentimental ist.

«Oriented» kann auf Netflix Schweiz gestreamt werden.