Die umfangreiche Dokumentation «Visible: Out on Television» auf Apple TV+ zeigt, wie sich die LGBTI*-Repräsentation im Fernsehen gewandelt hat – und was dies gesellschaftlich auslöste.

Wer TV-Serien auf Streamingportalen schaut, kann sich kaum retten vor queeren Charakteren und Handlungssträngen. Es ist beinahe schon ungewöhnlich, wenn es in einer Serie mal keine schwule oder lesbische Figur gibt. Auch werden die Geschichten um sie herum immer differenzierter, längst wird da nicht mehr einfach nur vom Coming-out erzählt.

Dieses LGBTI*-TV-Schlaraffenland gibt es allerdings noch nicht allzu lange. Wer wissen will, wie es dazu kam, wie die «Dark Ages» der 50er- und 60er-Jahre aussahen und was die Veränderungen bewirkte, findet jetzt dazu auf Apple TV+ eine umfassende Dokumentation in fünf Teilen: «Visible: Out on Television». Diese zeigt auch, was die erhöhte Sichtbarkeit im Fernsehen politisch auslöste.

«‹Will and Grace› hat wahrscheinlich mehr dazu beigetragen, die amerikanische Öffentlichkeit aufzuklären, als alles andere, das bisher getan wurde.» Dies sagte US-Vizepräsident Joe Biden 2012 in einem TV-Interview zur gleichgeschlechtlichen Ehe, die der aktuelle Präsidentschaftskandidat der Demokraten bereits deutlich früher befürwortete als sein damaliger Chef Barack Obama. Drei Jahre später öffnete das Oberste Gericht der USA landesweit die Ehe für Lesben und Schwule.

Die Interviewszene mit Biden wird auch in «Visible» gezeigt und illustriert, dass Repräsentation und Akzeptanz sich in einem ständigen Rückkoppelungsprozess befanden: Je akzeptierter LGBTI*, desto mehr und positiver kamen sie im Fernsehen vor – und je mehr und positiver sie im Fernsehen vorkamen, desto selbstverständlicher und akzeptierter wurden sie.

Die TV-Sitcom «Will and Grace» um einen schwulen Anwalt, seine beste Freundin und ihren sehr diversen Freundeskreis ist deshalb ein so gutes Beispiel, weil sie zweimal lief: ursprünglich von 1998 bis 2006 und nun, mit dem gleichen Cast, seit 2017 wieder. 1998 war die Sitcom eine Sensation, heute ist sie immer noch witzig, aber schwule Figuren im Fernsehen sind nichts Besonderes mehr. Dazu beigetragen, dass dies so ist, hat tatsächlich auch die Sitcom selbst.

Besserung ab den 1970er-Jahren

Wer aktuelle US-Serien schaut, begegnet in «Visible» vielen vertrauten Gesichtern – in zahlreichen Ausschnitten, aber auch in Interviews zum Thema. Sie analysieren, erzählen von damals, ordnen ein, was sich wann wie und warum verändert hat. Weniger vertraut und deshalb umso interessanter ist das Material aus der Frühzeit des Fernsehens, als queere Figuren gar nicht, verschämt oder lediglich als Lachnummern zu sehen waren. Oder sehr schnell eines tragischen Todes starben.

Zu ändern begann sich das erst in den 70er-Jahren, im Nachgang der Stonewall-Aufstände 1969. Harvey Milk wurde in San Francisco in die Stadtregierung gewählt (und später tragischerweise von einem Amtskollegen ermordet), und der Fernsehfilm «That Certain Summer» (1972) stellte erstmals überhaupt eine schwule Beziehung in den Mittelpunkt und positiv dar. Schauspieler dafür zu finden, war nicht leicht; Hal Holbrook und Martin Sheen waren schliesslich mutig genug, das Paar zu spielen. Aber physische Nähe musste konsequent vermieden werden – das wollte man dem amerikanischen TV-Publikum dann doch nicht zumuten.

«Visible» zeigt viele weitere solche Meilensteine, etwa Ellen DeGeneres’ Coming-out 1997 in ihrer Sitcom «Ellen». Für die Sichtbarkeit der LGBTI*-Community war dies ein gewaltiger Schritt, für DeGeneres jedoch zunächst ein Karrierekiller, von dem sie sich erst einige Jahre später dank ihrer eigenen Talk-Show erholte, die heute fester Bestandteil der US-TV-Welt ist.

Auch trans und non-binäre Menschen, die am Bildschirm noch immer unterrepräsentiert sind, kommen zu Wort – so erzählt etwa «Billions»-Star Asia Kate Dillon, wie es war, zum ersten Mal ein Angebot für eine echte non-binäre Rolle zu erhalten. Und Mj Rodriguez und Billy Porter berichten, wie die Serie «Pose» entstand, die den grössten Cast an trans und queeren Darsteller_innen versammelt, den es je gegeben hat.

Die Dokumentation fokussiert auf bestimmte Themen, interviewt dazu Aktivist_innen der ersten Stunde und Schauspieler_innen und Autor_innen von damals und heute. Dazwischen gestreut sind zahllose Ausschnitte aus Serien, Filmen, Nachrichtensendungen und TV-Debatten. Das Resultat ist informativ, unterhaltsam, ab und zu witzig und insgesamt eine eindrücklich umfassende Darstellung, die sich allerdings auf die TV-Welt der USA beschränkt. Was okay ist, da sich gesellschaftliche und mediale Trends jahrzehntelang von dort her ausgebreitet haben.

Erste Schwule und Lesben im deutschsprachigen Fernsehen

Im deutschsprachigen Raum wurde das breite TV-Publikum 1977 durch «Die Konsequenz» erstmals mit positiv dargestellter Homosexualität in einem Spielfilm konfrontiert. 1981 gab es mit Steven Carrington in «Der Denver-Clan» (im Original: «Dynasty») erstmals eine schwule Serienfigur, die allerdings eine eher gequälte Existenz führte und nie richtig glücklich werden durfte, wie «Visible» schön darstellt. 1985 tauchte mit Carsten Flöter in der «Lindenstrasse» dann die erste schwule Figur in einer deutschen TV-Serie auf – bis zum ersten Kuss dauerte es aber noch zwei Jahre, und die Reaktionen darauf waren damals heftig. Auch das erste Lesbenpaar gabs in der «Lindenstrasse», Tanja Schildknecht und Sonia Besirski, aber so richtig erst in den 90er-Jahren. Die Schweiz war da für einmal schneller: Der erste Kuss zwischen zwei Männern fand schon 1984 statt, in der TV-Serie «Motel», einer Produktion des Schweizer Fernsehens.

«Visible» zeigt deutlich, wie stark sich TV-Unterhaltung und gesellschaftliche Entwicklung gegenseitig befruchten und beeinflussen. Nichts trägt mehr zu einem Eindruck gesellschaftlicher Zugehörigkeit und «Normalität» bei, als jeden Montagabend in der eigenen Lieblings-TV-Serie ganz selbstverständlich eine queere Figur mit all ihrem Freud und Leid mitzuerleben. Je mehr Diversität im Fernsehen, desto besser also. Und obwohl sich in den letzten Jahren diesbezüglich viel getan hat, würden wir uns freuen, noch mehr trans Menschen am Bildschirm zu sehen, mehr Inter* und Non-Binäre, mehr queere Angehörige ethnischer Minderheiten, mehr ältere oder dicke LGBTI*, mehr Queers mit Behinderung… Da gäbe es noch eine Fülle spannender Geschichten zu erzählen.