Der deutsche Philosophieprofessor Markus Gabriel diagnostizierte kürzlich eine gewisse «identitäre Verbohrtheit» im queeren Aktivismus. Wir haben beim LGBTI*-Alliierten nachgefragt, was er damit meint und wie der Kampf um Gleichberechtigung aus seiner Sicht produktiver ablaufen könnte.
Sie sagten Ende 2020 im «Tages-Anzeiger», die LGBTI*-Bewegung kämpfe zu Recht für Freiheit und Gerechtigkeit, laufe dabei jedoch teils in «identitäre Verbohrtheit» hinein. Können Sie ausführen, was Sie damit meinen?
Zum Beispiel, dass in Orlando letztes Jahr die Aufführung eines Konzerts für die queeren Opfer des Pulse-Attentats abgesagt wurde, weil der Komponist ein weisser Heteromann ist. Oder dass die «Love, Simon»-Autorin Becky Albertalli sich offenbar «aus Erschöpfung» als bisexuell geoutet hat, nachdem ihr als Hetera die Ausnutzung der LGBTI*-Community vorgeworfen wurde. Oder wenn manche meinen, LGBTI*-Rollen in Filmen und Serien sollten nur noch von LGBTI*-Menschen gespielt werden. Problematisch finde ich aber auch, dass einige radikale Feministinnen (TERF) trans Frauen bei Frauenrechtsfragen ausschliessen wollen. So entstehen im Namen von Inklusion neue Ausgrenzungen und Diskriminierungen aufgrund von identitären Massstäben. Und das ist nicht nur bedauerlich, es reduziert aus meiner Sicht auch die Wirksamkeit des Aktivismus.
Wie ist das mit den identitären Massstäben genau gemeint?
Die Aufteilung der Menschen in soziale Kategorien wie Frau, Mann, schwul, lesbisch, schwarz, weiss, Einheimischer, Ausländer sehe ich als Problem. Denn damit sind ganz bestimmte Zuschreibungen verbunden. Ein Mann ist so und so, ein trans Mensch so und so, eine Schwarze so und so. Lange war gesellschaftlicher Konsens, dass es nur Mann und Frau gibt und sonst nichts – das ist auch ein Beispiel identitärer Verbohrtheit: diese beiden Kategorien liessen nichts anderes zu, obwohl da noch mehr ist. Die Kategorien zu erweitern, dann aber gleich mit ihnen umzugehen, ist kein hinreichender Fortschritt. Es entspricht nicht der Wirklichkeit des Menschseins. Progressiv wäre, den Gedanken der Identität zu überwinden.
Zum Beispiel?
Bei der Rassismus-Debatte ist das Ziel letztlich Farbenblindheit. Dass man gar nicht mehr wahrnimmt, was die Person vor einem für eine Hautfarbe oder Ethnie hat und folglich auch keine «typischen» Eigenschaften und Klischees mehr automatisch dadurch abgerufen werden. Unter dem Motto: Oh, der ist schwarz, aber trotzdem nett. Ziel ist, dass da einfach ein Mensch steht, dem man ohne Vorbehalte und Annahmen offen begegnet.
Und so sollte man auch mit sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität umgehen? Es sollte letztlich keine Rolle spielen?
Ganz genau. Das müsste das Ziel sein, finde ich. Dann wären wir an dem Punkt, wo der Kampf nicht mehr nötig ist. Wir sind alle Menschen, und innerhalb des Spektrums des Menschseins gibt es unendlich viele Möglichkeiten, auch solche, die wir vielleicht noch gar nicht auf dem Radar haben. Und die sind alle okay und sollten alle gleich behandelt werden.
Markus Gabriel (40) ist Philosophieprofessor und Inhaber des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität Bonn. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter.
Aber von diesem Ziel sind wir noch weit entfernt. Und auf dem Weg dorthin versucht nun jede Gruppe innerhalb des menschlichen Spektrums ihre Benachteiligungen zu reduzieren. Brauchts dafür nicht auch die von Ihnen kritisierte Form des Aktivismus?
Die Frage ist: Wie lange ist ein aktivistischer Kampf gerechtfertigt, der sich Mittel bedient, die wir am Ende nicht mehr haben wollen? Umso mehr als einzelne Gruppen daraus auch Profit schlagen können – erhöhte Aufmerksamkeit, politische Macht, finanzielle Mittel. Man profitiert davon, dass der Endzustand noch nicht erreicht ist. Man riskiert zudem Gegenreaktionen. Dass in den USA bis vor kurzem maskuline identitäre Verbohrtheit im Weissen Haus sass, hängt auch mit identitären Verbohrtheiten auf der anderen Seite zusammen, die entsprechende Wähler_innen mobilisiert haben. Wir sollten eher mit Verschiedenheit als mit Identität operieren, das reduziert das Risiko neuer Ausgrenzungen. Dann kann auch ein Hetero-Schauspieler einen Schwulen spielen und eine schwarze Schauspielerin eine britische Königin aus dem 18. Jahrhundert – solange sie in diesen Rollen überzeugend sind. Nur das ist der Massstab.
Die oben kritisierten Forderungen ergeben sich auch aus dem berechtigten Wunsch nach grösserer wirtschaftlicher Teilhabe für LGBTI*-Menschen. Was wären denn bessere Wege, dieses Ziel zu erreichen?
Statt Forderungen aufzustellen, die wiederum andere ausschliessen, sollte man die maximale Inklusion von Verschiedenheiten anstreben.
Wie würde das in der Praxis aussehen?
Man könnte etwa argumentieren, dass durch unsere gesellschaftliche Organisation über die sozialen Rollen Mann und Frau und deren bis vor kurzem noch exklusive rechtliche Verbindung der Ehe bestimmte wirtschaftliche Nachteile für andere Menschen im Steuerrecht entstanden sind, die es zu beseitigen gilt. Warum sollte irgendwer ausgeschlossen sein von den Privilegien einer Ehe? Entweder muss man diese Privilegierung abschaffen oder, noch besser, die Ehe auch allen anderen zugänglich machen. Das wäre eine inklusive Form des Aktivismus. In einer idealen Welt würden wir Wege finden, all den Menschen eine Stimme zu geben, die Opfer von gesellschaftlichen Nachteilen aufgrund von Identitätskategorien sind – um dann ihre Inklusion zu ermöglichen. Der schiere Hinweis wäre Grund genug für die Gesellschaft, ihre Regeln anzupassen.
Das Ziel ist die vollumfängliche Inklusion von LGBTI*, aber doch nicht auf Kosten anderer, schon gar nicht, wenn die ohne bösen Willen agieren.
Von dieser idealen Welt sind wir weit entfernt.
Das gebe ich gerne zu. Aber es würde nur schon helfen, wenn der Aktivismus stärker auf die Zielvorstellung ausgerichtet würde. Das Ziel ist die vollumfängliche Inklusion von LGBTI*, aber doch nicht auf Kosten anderer, schon gar nicht, wenn die ohne bösen Willen agieren, sondern sogar noch unterstützen wollen, wie etwa dieser Komponist für das Pulse-Gedenkkonzert in Orlando.
Ziel dort war eigentlich primär, mehr LGBTI*-Beteiligung zu erreichen. Und wenn man als Schwuler oder trans Mensch oder Schwarze für eine Besserung bestimmter Dinge kämpft, kommt man doch um die identitäre Forderung für die eigene Gruppe gar nicht herum.
Klar, man stellt seine Forderungen und weicht von denen auch nicht ab, aber gepaart mit einem gewissen Verständnis für die andere Seite. Denn auch die kennt Diskriminierungserfahrung – die erlebt nämlich jede_r in irgendeiner Form – , und ist sich vielleicht manchmal gar nicht bewusst, dass sie mit ihrem Verhalten andere diskriminiert. Das gilt natürlich nicht für Radikale, die Gewalt ausüben, oder Leute, die mit Absicht diskriminieren. Doch das ist zum Glück in vielen aufgeklärten Gesellschaften eine Minderheit. Gleichstellung gelingt nur, wenn wir es schaffen, die unentschlossene Mehrheit für den Fortschritt zu gewinnen. Und dafür braucht es nicht nur Hartnäckigkeit, sondern auch Empathie. Schreckt man die Mehrheit ab, etwa mit übersteigerten identitären Forderungen, führt das eher nicht zum erwünschten Ziel, sondern provoziert Gegenreaktionen und Grabenkämpfe, wie wir sie heute ja auch vielerorts erleben.
Es gibt aber auch Menschen, die aus Tradition oder Überzeugung an diskriminierenden Regeln und Gepflogenheiten festhalten wollen – bei denen erreicht man mit Empathie gar nichts. Wie würde hier eine inklusive Strategie aussehen?
Wenn sich die Gesellschaft durch moralischen Fortschritt und durch immer mehr Inklusion und Anerkennung der Verschiedenheiten von Menschen weiterentwickelt, verschwinden allmählich die diskriminierenden Traditionen. Sollte das bei denjenigen, die an Diskriminierung festhalten wollen, zu einer Verhärtung führen, greift im Idealfall der demokratische Rechtsstaat ein – mit einer entsprechenden Gesetzgebung, um negative Diskriminierung zu verhindern.
Weshalb hat sich der Aktivismus überhaupt in diese identitäre Richtung entwickelt?
Aus meiner Sicht nimmt dies seit 10 bis 20 Jahren zu – durch das Internet, soziale Medien und die Echokammern, die dadurch entstanden sind. Es ist also ein mediales Phänomen, das sich nun im Alltag auswirkt. Davor war der Diskurs entspannter, obwohl es für ausgegrenzte Menschen natürlich niemals leicht war, auch nicht für die Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts.
Analoge Interaktion und klassischer politischer Kampf bewirken einfach mehr als Wortgefechte auf Twitter.
Die LGBTI*-Community hat in der westlichen Welt mit ihrem Aktivismus in den letzten 50 Jahren viel erreicht. Weshalb war dies so erfolgreich?
Der frühere Aktivismus war im Grunde typischer Klassenkampf, man ging auf die Strasse, besetzte Häuser, klebte Plakate, schrieb Artikel, lobbyierte politisch. Das funktionierte sicherlich auch deshalb, weil es Teil einer grossen, sich entwickelnden Vorwärtsbewegung von gesellschaftlicher Teilhabe und Gleichberechtigung war, neben Frauen und ethnischen Minderheiten kamen nun noch sexuelle und geschlechtliche Minderheiten hinzu. Mit dem Aufkommen der digitalen Welt sind jedoch viele Kämpfe ins Netz verlegt worden; dort geht es aber viel stärker um Symbole als in der physischen Welt, deshalb ist es auch weniger effektiv. Analoge Interaktion und klassischer politischer Kampf bewirken einfach mehr als Wortgefechte auf Twitter.
Allerdings ist dafür das Risiko für Gewalt höher.
Das stimmt, aber man kriegt halt einfach keine Arbeitnehmerrechte, wenn man nicht auch mal streikt. Ebenfalls wichtig sind Bildung und Erziehung. In der Kita meiner sechsjährigen Tochter werden die Kinder so sozialisiert, dass sie immer irritiert nachfragt, wenn ich im Alltag bei irgendwas nur die männliche Form verwende: «Was, können das nur Männer?» Das kommt zuverlässig – und ich finde es super, das ist Fortschritt!
Macht es denn Sinn, dass die diversen LGBTI*-Gruppen sich im Aktivismus derart zusammengeschweisst haben? Gibt das eine höhere Durchschlagskraft, obwohl die einzelnen Gruppen doch recht unterschiedliche Anliegen haben und in anderen Phasen der gesellschaftlichen Akzeptanz stecken?
Das scheint mir sogar sehr sinnvoll. Der Kampf von Lesben und Schwulen ist schon lange im öffentlichen Bewusstsein und konnte enorme Erfolge feiern. Von diesen Netzwerken und dieser Glaubwürdigkeit können die anderen Gruppen nur profitieren. Hier funktioniert der Grundgedanke der Inklusion genau richtig. Noch besser wäre, wenn sich der Bewegung auch noch viele andere anschliessen, die nicht persönlich von dieser Diskriminierung betroffen sind, sich aber aktiv für die Teilhabe auch dieser Menschen engagieren. Wenn sich also quasi die nette Oma von nebenan diese Sache zu eigen macht. Sowas wäre eine grosse Hilfe, all jene zu erreichen, die noch unentschieden sind oder unbewusst am systemischen Übel mitwirken.
Wir kommen nicht, um etwas wegzunehmen, wir bringen mehr – mehr Diversität, mehr Möglichkeiten, Erkenntnisse, Gleichheit, das ist grossartig.
Haben Sie Vorschläge, wie LGBTI*-Aktivismus heutzutage produktiv vorangetrieben werden kann?
Aufklärung auf möglichst vielen Kanälen, Bildung verbessern und vor allem auch: Ängste abbauen. Viele befürchten, dass man ihnen etwas wegnehmen will, deshalb mauern sie. Dieser Eindruck darf gar nicht erst entstehen. Stattdessen muss man versuchen, die Töpfe grösser zu machen. Als ich hier in Bonn meine Leitungsfunktion antrat, gab es im Fach Philosophie fast nur männliche Professoren. Also haben wir neue Professuren geschaffen, durch Anwerben neuer Mittel. Heute haben wir drei, bald wohl vier Frauen, was noch immer nicht ganz die Hälfte ist. Das Ziel ist fast erreicht, ohne dass wir in diesem Prozess irgendeinem Mann eine Stelle oder auch nur eine Jobchance weggenommen haben. So muss es idealerweise laufen. Und diese Botschaft muss man auch im Aktivismus vermitteln: Wir kommen nicht, um etwas wegzunehmen, wir bringen mehr – mehr Diversität, mehr Menschsein, mehr Möglichkeiten, Erkenntnisse, Gleichheit, das ist grossartig.
Wie kommt es eigentlich, dass Sie sich mit LGBTI*-Aktivismus beschäftigen?
Ich bin in Bonn und damit in der Nähe des vergleichsweise queeren Köln aufgewachsen und hatte schon während meiner Kindheit und Jugend mit so vielen queeren Menschen zu tun, dass ihre Themen für mich ganz alltäglich wurden. Und bei meiner ersten Professur in New York vor 15 Jahren begegneten mir bereits die Frühphasen des heutigen Aktivismus. Als Philosoph und Ethiker beschäftigt es mich auch fachlich, und als Vertreter der maximalen Inklusion nehme ich in Anspruch, meine Perspektive in die Debatte einzubringen, obwohl ich selbst nicht Teil der LGBTI*-Community bin. Denn auch mich geht es etwas an, wenn meine Mitmenschen ungerecht behandelt werden. Und selbst wenn ich sicherlich in vielen Bereichen weniger weiss und diese spezifische Diskriminierungserfahrung nicht kenne, bin ich dennoch berechtigt mitzureden und mehr zu erfahren, was im Leben der Community eine Rolle spielt und wie ich unterstützen kann. Dabei möchte ich offen bleiben, Neues zu lernen und meine Meinungen zu revidieren. Und genau das sollte aus meiner Sicht die allgemeine Grundhaltung sein.
Illustrationen: Debora Gerber