An der allerersten Pride im Tessin reihten sich am 2. Juni rund 6000 Personen in den Umzug am See ein. Aus allen Teilen der Schweiz und aus Norditalien waren sie angereist, mit der klaren Botschaft an die Tessiner Queer-Community: ihr seid nicht alleine.

Nahezu fünfzig Leute von Queeramnesty, Refugees und Aktivist_innen, mischten sich mit Ballonen und Schildern unter die bunte Menge – zur Freude des Publikums aber auch zur eigenen: War es doch für die Asylsuchenden wieder einmal eine Gelegenheit, einen Tag lang aus der Tristesse des Asylverfahrens ausbrechen zu dürfen. Und einmal mehr zu erfahren, dass ganz viele Menschen auf dieser Welt queer leben und dafür auch einstehen.

Schlag vier Uhr nachmittags startete die Parade, und genau in diesem Moment setzte auch der Regen ein. Dieser hielt exakt so lange an, bis der Umzug das «Gay Village» erreicht hatte, dann öffnete sich der Himmel wieder, und die Sonne begleitete die Feiernden in den Abend.

Die Zahl der Zuschauenden war mindestens so gross wie die der Teilnehmer_innen. Ob Einheimische oder Tourist_innen, alle trotzten dem Regen und verharrten unter Schirmen und Arkaden. Das Ziel der Pride, wahrgenommen zu werden, erfüllte sich voll und ganz. Zurecht sprach Luganos Stadtpräsident Marco Borradori von einem Paradigmenwechsel im Tessin. Die Präsenz von Familien mit Kindern, von Jungen und Alten am Strassenrand, die zuwinkten und mitfeierten, bestätigte dies. Angenehm fiel auch auf, dass die Umzugsteilnehmenden dem Publikum wenig Provokantes zumuteten; die Parade hatte Chic.

Ignazio Cassis überbrachte die Grussbotschaft des Bundesrates und betonte in seiner Ansprache die Errungenschaften für die LGBTI*-Community in der Schweiz, im Vergleich zu anderen Ländern dieser Welt. Dabei übersah er offensichtlich, dass die Schweiz im europäischen Vergleich doch eher als rückständig gesehen werden muss, was LGBTI*-Rechte anbelangt. Die Forderungen diverser Vorredner_innen aus den queeren Gruppierungen, wirkliche Gleichstellung von LGBTI*-Menschen und Diskriminierungsverbote in unserem Land zu erwirken, liess er leider unkommentiert.

WIE LEBEN LGBTI*-MENSCHEN IM TESSIN? EIN GESPRÄCH MIT DONATELLA ZAPPA, VORSTANDSMITGLIED VON IMBARCO IMMEDIATO.

Das Tessin: Inbegriff von Sonne, Ferien und Romantik. Wir reisen dorthin und suchen pittoreske Dörfchen, aus Naturstein gebaute Rustici, Glocken, die viertelstündlich vom Campanile bimmeln, aber auch Tradition, Salami, Polenta und ein Boccalino Nostrano. Traditionelle Regionen stehen denn auch schnell im Verdacht, in LGBTI*-Fragen rückständig zu sein und konservative Werte zu vertreten. Im Falle des Tessins kommt leicht der Vergleich zu Italien, wo Katholizismus und Familientradition für viele ihr Leben in einer sexuellen und/oder geschlechtsidenten Minderheit zum grossen Problem werden lässt.

Darauf angesprochen schüttelt Donatella Zappa den Kopf und erwidert, dass das Leben von sexuellen Minderheiten, trans* und inter* Menschen im Tessin nicht anders sei, als in einem anderen durchschnittlichen Schweizer Kanton wie zum Beispiel Solothurn oder Neuchâtel – und sicher einfacher als beispielsweise im Wallis oder im Kanton Fribourg.

Donatella ist seit über 20 Jahren LGBTI*-Aktivistin und Vorstandsmitglied bei iMBARCO iMMEDiATO, der Schwulen- und Lesbenorganisation der italienischen Schweiz. Die Organisation, deren Name übersetzt soviel wie «sofort an Bord kommen» heisst, wurde 2006 gegründet, als Nachfolge eines Vereins, der sich im Tessin zuvor für lesbisch-schwule Anliegen eingesetzt hat. Mehr als 300 Mitglieder stützen den Verein, der sich mittlerweile für alle sexuellen und geschlechtlichen Identitäten in der italienischen Schweiz einsetzt.

Das Hauptgewicht der Aktivitäten liegt auf der Begegnung von LGBTI*-Menschen, dem Schaffen von sozialen Räumen, in denen sich die Community trifft. Donatel

la formuliert es so: «Solange du ausgestossen und versteckt lebst, wirst du deine Situation nicht verbessern – erst wenn du sichtbar wirst, kannst du auch für deine Rechte und deinen Lebensweg einstehen.» Selber Direktorin einer öffentlichen sozialen Einrichtung, ist sie der Überzeugung, dass ihr geoutetes Leben keine Nachtteile bringe und man im Tessin ohne Probleme offen schwul oder lesbisch leben könne. Den Einwand, dass Luganos Stadtpräsident Marco Borradori anlässlich der Pride von einem Paradigmenwechsel im Tessin gesprochen hat, kommentiert sie dahingehend, dass es gut sei, dass diese Erkenntnis nun auch bei der Regierung angekommen sei und erklärt weiter: «Eine unterdrückte Minderheit stellt nicht einfach so eine Pride auf die Beine, die 6000 Teilnehmende und mindestens nochmals so viele Zuschauende anlockt.» Das sei eine riesige Herausforderung und verlange eine gute und breite Vernetzung.

Nein, im Tessin lebt eine selbstbewusste und gut organisierte Community. Der Südkanton ist nicht einfach «ein kleines Italien», Kirche und politische Kräfte sind dort nicht miteinander verwoben. Traditionen und kulturelle Eigenheiten sind vorab Imagepflege für den Tourismus. Gerade dieser aber hat das Tessin weltoffen gemacht und soziale Strukturen stark verändert. Traditionen lassen sich gut an Tourist_innen verkaufen, aber die heutige Tessiner Bevölkerung lebt zumeist ein modernes Leben. Oder mit Donatellas Worten: «Wir nehmen uns von allem das Beste. Bei den politischen und sozialen Strukturen sind wir schweizerisch, aber wenn es um Genuss, Kultur und Lebensfreude geht, dann orientieren wir uns an Italien.»

Sie warnt davor, propagiertes traditionelles Image für die soziale Realität zu halten. Wenn zum Beispiel an der Pride ein paar religiöse Fanatiker, von denen zuvor noch nie jemand was gehört hat, demonstrativ ihren Rosenkranz beten wollen, dann ist das nicht traditionelles Tessin, sondern religiöser Humbug, wie er auch an anderen Prides anzutreffen ist.

GEMEINSCHAFT, AUSTAUSCH UND SICHTBARKEIT

iMBARCO iMMEDiATO legt sehr viel Wert auf das Schaffen von Begegnungsstätten. Monatlich finden unter dem Label «happy hour» Partys mit mehr als 300 Teilnehmenden statt – immer wieder an einem anderen Ort, um der geografischen Weite des Tessins Rechnung zu tragen. Sogar ein Filmfestival unter dem Titel «pink popcorn» wird alle zwei Jahre organisiert. Ebenso gibt es innerhalb des Vereines das «Imbarco al volo» (Volleyballteam) und weitere sportliche Aktivitäten. Gemeinschaft, Austausch und Sichtbarkeit sind iMBARCO iMMEDiATO weit wichtiger als politischer Aktivismus, der sowieso nur auf nationaler Ebene Sinn mache.

Eine zweite wichtige Arbeit der Organisation ist die persönliche Begleitung von LGBTI*-Menschen auf ihrem Weg, sei es durch direkte Beratung oder durch Aktivitäten im Verein. Ebenso werden Familien-, Jugend- und Transgruppen aufgebaut. Unter dem Begriff «Gender freedom» formiert sich gerade eine Gruppe, die dem von LGBTI*-Nomenklaturen vorgegebenen Kästchendenken entfliehen will.

Donatella sieht die Herausforderung heute nicht mehr primär im Coming-out junger Menschen. Die meisten Jugendlichen im Tessin seien weltoffen genug, dass dies nicht mehr das zentrale Problem sei. Auch wenn auf Schulhöfen LGBTI*-Feindlichkeit und Bullying verbreitet seien und political correctness im Alltag oft vernachlässigt werde, so unterscheide sich das Tessin damit nicht von anderen Regionen der Schweiz. Allerdings erfordere dies sicher weiterhin viel Aufklärungsarbeit.

Was auf uns zukomme sei jedoch ein epochaler Wandel, glaubt die Aktivistin: das Zerfliessen der Grenzen, die Plastizität und Vielfalt von Geschlecht und Sexualität. «Damit wird die LGBTI*-Frage erst recht interessant und zu einer überragenden Herausforderung.»

Wer an der Pride im Tessin teilgenommen hat, wird Donatellas Einschätzungen zumindest bis zu einem gewissen Grad teilen. Das Tessin ist LGBTI*-mässig weder Entwicklungsland noch kleines Italien: Hier lebt eine Community, die ihren Weg gefunden hat und die sich in der Gesellschaft zu behaupten weiss.