Die beschleunigten Verfahren gehen auf Kosten der Qualität, schreibt Beat von Wattenwyl von der Schweizer Flüchtlingshilfe (SFH).

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AUSGANGSLAGE

Am 5. Juni 2016 hat die Schweiz die Volksabstimmung für neue beschleunigte Asylverfahren mit 66.8% angenommen. Mit der flächendeckenden Beratung und rechtlichen Vertretung der Asylsuchenden direkt ab Beginn des Verfahrens in den Bundesasylzentren wurde eine langjährige Forderung der SFH erfüllt. Diese unterstützte daher von Beginn an das neue System und dessen Zielsetzung, die Rechte der Betroffenen zu stärken, rasche und faire Verfahren durchzuführen sowie eine hohe Qualität der Asylentscheide zu gewährleisten. Die SFH sieht ihre Aufgabe darin, den Systemwechsel als Fachorganisation kritisch zu begleiten und zu analysieren, ob und inwieweit die gesetzten Ziele in der Praxis umgesetzt und erreicht werden.

Das neue Verfahren ist seit dem 1. März 2019 in Kraft, und die Beschleunigung ist in der Tat eine wichtige Errungenschaft für die Asylsuchenden. Die Betroffenen müssen nicht mehr jahrelang auf einen Entscheid warten und dann unerwartet, nach fortgeschrittener Integration, trotzdem in ihr Herkunftsland zurück. Sie wissen rasch Bescheid, ob sie Anspruch auf Schutz haben und können bei einem positiven Entscheid umgehend in die Gesellschaft integriert werden. Asylsuchende mit einem negativen Entscheid sind eher gewillt, in ihr Herkunftsland zurückzukehren, wenn sie frühzeitig darüber informiert werden und von der Rückkehrhilfe profitieren können.

Die Frage ist allerdings, ob die Verfahren nicht nur genügend schnell, sondern auch fair und mit der nötigen Qualität durchgeführt werden. Gerade wenn es zur Zuweisung ins erweiterte Verfahren kommt. Oder zu Sachverhaltsabklärungen bei Asylsuchenden mit psychischen oder physischen Beschwerden.

ERSTE BILANZ DER NEUEN ASYLVERFAHREN NACH EINEM JAHR

Die neuen Asylverfahren wurden mit dem expliziten Anspruch eingeführt, gleichermassen schnell und fair zu sein – das eine darf nicht auf Kosten des andern gehen. Auf diesem Versprechen beruht die breite politische Unterstützung und Akzeptanz der neuen Verfahren. Doch dieses Versprechen wird bislang nur ungenügend eingehalten. Die Priorität des Staatssekretariats für Migration (SEM) lag in den ersten zehn Monaten hauptsächlich auf der Effizienzsteigerung. Das führt in der Konsequenz zwar tatsächlich zur beabsichtigten Beschleunigung. Doch leiden darunter zugleich die korrekte und faire Durchführung der Verfahren sowie die Qualität der Entscheide. Damit stimmen aus Sicht der SFH beim Systemwechsel Anspruch und Realität bislang noch nicht überein. Der Fokus ist zu wenig aufdie Qualität ausgerichtet, sondern primär auf vordefinierte Soll-Werte und eng ausgelegte Ordnungsfristen.

So werden zum Beispiel viel zu wenig komplexe Fälle, welche eine tiefgreifende Abklärung des Sachverhaltes benötigen, dem erweiterten Verfahren zugewiesen. Dies geschah nach zehn Monaten seit Beginn des neuen Asylverfahrens nur bei ca. 18% aller Asylgesuche, obschon die Vorgabe auf 28% festgelegt wurde. Das Bundesverwaltungsgericht hat diesen Mangel kürzlich mit einem Grundsatzurteil (1) bekräftigt. Mitunter hat die Rechtsvertretung gerügt, dass angesichts der eingereichten Beweismittel schon nach der ersten Anhörung eine Triage ins erweiterte Verfahren hätte vorgenommen werden müssen und dass das SEM damit seine Untersuchungspflicht verletzt habe. Dieses Urteil beweist, dass das SEM den Fokus stärker auf die Qualität setzen muss.

Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes bestätigt auch in vielen anderen Konstellationen, dass die Priorität nicht auf qualitativ einwandfreien und korrekten Entscheiden liegt. Bereits nach ca. zehn Monaten musste in rund 50 Fällen der Entscheid aufgrund unvollständiger und unkorrekter Sachverhaltsabklärung aufgehoben und an die Vorinstanz (SEM) zurückgewiesen werden. Betroffen davon waren insbesondere Asylsuchende mit gesundheitlichen Beschwerden psychischer oder physischer Art. Der Zugang zum Gesundheitssystem und die Sachverhaltsabklärungen für Asylsuchende mit gesundheitlichen Beschwerden sind im neuen Asylverfahren mangelhaft. Von den rund 50 zurückgewiesenen Fällen ans SEM betrafen ca. 40 Asylsuchende mit gesundheitlichen Beschwerden. Hauptursache ist die massive Verfahrensbeschleunigung. Das bestätigt auch die Befürchtungen und Erkenntnisse der Evaluation des Testbetriebs in Zürich, wonach etwa Menschen mit physischen oder psychischen Leiden in den beschleunigten Verfahren kaum genügend Zeit bleibt, diese zu benennen und zu belegen (2). Und auch wenn ihnen dies gelingt, hinderten in den ersten zehn Monaten die bewusst eingeschränkte Kommunikation zwischen dem Rechtsschutz und dem medizinischen Fachpersonal oft einen angemessen Zugang zu medizinischer Versorgung. Von den beschriebenen Mängeln betroffen sind oft Schutzsuchende mit besonderen Bedürfnissen wie Kinder, gewaltbetroffene Frauen oder stark traumatisierte Menschen. Gerade in solchen Fällen ist die Arbeit des Rechtsschutzes im erstinstanzlichen Verfahren fundamental. Aufgrund der zu stark getakteten Verfahren kann dieser die ihm zugeschriebene zentrale, verfahrensunterstützende Rolle nur beschränkt einnehmen.

FAZIT

Auch wenn wir noch ganz am Anfang der grössten Gesetzesrevision der Geschichte des Asylwesens stehen, sollten von Beginn weg die Weichen richtig gestellt werden – nicht nur auf ein beschleunigtes Verfahren, sondern auf ein beschleunigtes und faires Verfahren mit hochstehender Qualität.

Die Erfahrungen des letzten Jahres zeigen jedoch die Grenzen der Verfahrensbeschleunigung deutlich auf. Der Rechtsschutz braucht vor allem bei Personen mit besonderen Bedürfnissen Zeit, um Vertrauen aufzubauen und Kontinuität garantieren zu können. Das SEM braucht Zeit für eine lückenlose Sachverhaltsabklärung, um eine hohe Entscheidungsqualität zu erreichen. Diese Ziele wurden bisher nicht in Einklang miteinander gebracht – sie stehen sogar in Konkurrenz zueinander.

Es braucht also Korrekturen. Etwas mehr Zeit bei den einzelnen Schritten würde die Qualität sowohl der Vertretungsarbeit, als auch diejenige der Asylentscheide positiv beeinflussen.


(1) https://www.bvger.ch/bvger/de/home/medien/medienmitteilungen-2020/triagebeibeschleunigtenasylverfahren.html
(2) Evaluation Testbetrieb Asyl, Mandat 3, Schlussbericht zuhanden des Staatssekretariat für Migration (SEM), Luzern, den 18. November 2015 (Evaluation Mandat 3), Ergebnisse 9 und 10.