Ein Leben zwischen verschiedenen Welten – ein solches Gefühl kennen viele queere Kinder von Migrant*innen in der Schweiz. Die Instagram-Seite «mir_existieret» bietet ihnen seit 2020 eine Plattform, durch die eine eigene Community entstanden ist. Wir haben mit einer der Organisatorinnen gesprochen – über das Verbinden von kulturellen und queeren Identitäten, über Familie und Coming-out und darüber, dass man nie alleine dasteht.
Wie ist «mir_existieret» entstanden?
Sehr spontan. Ich habe meiner Partnerin erzählt, dass ich mich als Teenager oft sehr allein und fremd gefühlt habe, weil ich praktisch keine queeren Albaner*innen kannte. Nur schon dass ich nicht in der Schweiz geboren bin und meine Eltern wenig Deutsch sprachen, sorgte bereits dafür, dass ich in zwei Welten lebte. Dazu kam, dass ich an Frauen interessiert war. So fühlte ich mich effektiv wie eine Ausserirdische. In der Kultur, in der ich aufgewachsen bin, gibt es keine Homosexualität – jedenfalls spricht man nicht darüber, denn es ist das absolute Tabu. Also dachte ich immer, ich sei anders als alle anderen, und es verstehe mich bestimmt niemand. Meine Schweizer Freund*innen verstanden nicht, was es heisst, in einer Migrant*innenfamilie aufzuwachsen, und meine ausländischen Freund*innen hatten nicht viel übrig für Homosexualität. Ich passte mich ständig an die jeweilige Situation an und fühlte mich eigentlich nirgends dazugehörig. Bis ich meiner Freundin eines Tages erzählte, dass ich gerne eine Community von queeren Migrant*innenkindern gehabt hätte. Da fand sie beiläufig: Dann gründe doch einfach eine. Und genau dies tat ich am nächsten Tag.
Was genau war dein Ziel dabei?
Ich wollte eine öffentliche Plattform kreieren, die zeigt, dass queere Migrant*innenkinder existieren – auch wenn sie kaum irgendwo wahrgenommen werden. Eine Seite, die nicht die grosse Masse anspricht, sondern ganz spezifisch jene, die wie ich damals in ihrem Zimmer sitzen und sich fragen, ob sie ganz alleine in ihrer Situation sind. Ich wollte zeigen: mir existieret! Daraus ist eine Untergruppe in einer Untergruppe entstanden. Heute führe ich die Seite zusammen mit meiner Freundin, die übrigens keinen Migrationshintergrund hat. Dennoch ist das Ganze quasi «auf ihrem Mist gewachsen».
Was unterscheidet die Erfahrungen queerer Migrant*innenkinder von denen anderer Menschen?
In einer Migrant*innenfamilie zählt oftmals das Kollektiv. Man lebt und gilt als eine Einheit. Die persönliche Entscheidung eines Individuums hat also Folgen für die ganze Familie. Ich selbst bin in einer kosovarischen Familie aufgewachsen, die zwar nicht streng religiös (muslimisch), aber dennoch gewissermassen von Traditionen geprägt war. Zum Beispiel war schon sehr früh klar, dass ich jung einen Mann heiraten werde. Mein Leben sollte nach einer Schablone verlaufen, welche für die Gesellschaft in Kosovo als richtig gilt und für ein vermeintlich erfülltes Leben sorgt: Ausbildung, Verlobung, Heirat, Kinder. Praktisch alle Verwandten und Bekannten meiner Familie haben seit Jahrhunderten nach diesen Werten gelebt. Und so hatte ich schon sehr früh diese Last auf mir, dass ich meine Eltern stolz machen und sie auf keinen Fall enttäuschen will. Schliesslich haben sie in jungem Alter ihre Heimat verlassen, um mir und meinen Geschwistern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Also war ich ihnen etwas schuldig. Aus diesem Grund habe ich meine Homosexualität sehr lange zu unterdrücken versucht, denn es war etwas, das von dieser Schablone abwich. Die Tatsache, dass ich keinen Mann heiraten würde und sich mein Leben von dem aller anderen Bekannten und Verwandten unterscheiden würde, fühlte sich an, als würde ich meine Wurzeln verleugnen und meiner Familie den Rücken zukehren. Viele queere Migrant*innen haben ähnliche Ängste und insbesondere diese Schuldgefühle, das verbindet uns. Ein Coming-out-Prozess ist für niemanden einfach – ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Aber das Gefühl, die Familie zu verraten und alle Opfer der Eltern zunichte zu machen, ist meiner Erfahrung nach bei uns viel ausgeprägter, als bei queeren Personen ohne diesen kulturellen Hintergrund.
Gibt es Dinge, die andere in der queeren Community nur mit Mühe oder gar nicht verstehen?
Der Zusammenhalt in der Community ist etwas Wunderbares und aus meiner Sicht enorm wichtig, da wir leider immer noch eine Marginalisierung erleben. Wir stellen auf unserer Page zudem sehr oft fest, dass auch Menschen ohne Migrationshintergrund unsere Posts kommentieren und uns bestärken – das ist unheimlich schön! Aber es ist dennoch nicht für alle nachvollziehbar, warum die Meinung der Familie eine so grosse Rolle spielt. «Du bist doch erwachsen, oute dich und lebe dein Leben. Wenn sie dich nicht akzeptieren, sind sie selbst schuld.» Das habe ich sehr oft gehört. Genau in solchen Momenten habe ich gemerkt, dass meine Sorgen sich von anderen unterscheiden. In diesen Situationen wünschte ich mir eine Community von queeren Migrant*innenkindern, die mich verstehen, weil sie genau die gleichen Erfahrungen machen.
Wie erlebst du deine verschiedenen Identitäten?
Ich identifiziere mich als lesbische Frau. Auf dem Papier bin ich Schweizerin, bin jedoch in einer kosovarischen Familie aufgewachsen und werde deshalb als Ausländerin wahrgenommen. Ich trage also verschiedene Hüte. Und jede dieser Minderheiten bringt diverse Stereotypen mit sich. Es ist schwer, diese Identitäten miteinander zu verknüpfen, denn sie können nicht immer koexistieren. Als lesbische Frau kann ich mit meinen «ausländischen» Eltern – trotz Coming-out – nicht offen über meine vollwertige Beziehung mit einer Frau sprechen. In meiner Kindheit wurde zuhause nicht über Liebe und Sex gesprochen. Als Schweizerin fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass meine Familie noch nicht zu 100% mit meiner Homosexualität klarkommt. Als Frau bin ich sowieso wütend. Es ist eigentlich ein riesiges Chaos – und trotzdem bin ich froh, all diese Seiten zu haben. Ohne jede einzelne von ihnen wäre ich nicht, wer ich bin. Und heute kann ich sagen: Ich mag mich.
In euren Posts sagt ihr, wie bestärkend die Instagram-Community für euch ist. Kannst du das ein wenig beschreiben?
Als ich die Seite startete, wusste ich echt nicht, wie sie ankommen wird. Ich hatte mir keine Strategie überlegt, und von Social Media habe ich sowieso keinen Plan. Immer wieder dachte ich: Was wenn sich gar niemand mit meiner Story identifizieren kann? Aber es dauerte nicht lange, bis die ersten Nachrichten eintrafen, und jede einzelne hat mich im Herzen berührt. Es schrieben mir Menschen mit verschiedenen Migrationshintergründen, aber auch ohne. Sie bestärkten mich im Vorhaben und vor allem bestätigten sie mir, dass eine solche Community wichtig ist. Wir durften den Austausch mit wildfremden Leuten geniessen, und sie liessen uns an ihren Stories teilhaben. Zum Teil sind es sehr persönliche Geschichten, von Menschen die sich auf Social Media oder im Alltag (noch) nicht unbedingt als Teil der queeren Community zu erkennen geben. Als ich mit der Page angefangen hatte, war ich bei meinen Eltern noch nicht geoutet. Was mich unter anderem sehr bewegte, war ein Interview mit einer Albanerin im Podcast «Busenfreundin» zum Thema Queersein in dieser Kultur. Ich konnte mich sehr mit ihr identifizieren und bewunderte ihren Mut und ihre Entschlossenheit. Menschen wie sie haben mich so sehr bestärkt, dass ich eines Tages entschied, mit meinen Eltern darüber zu sprechen. Der Austausch über «mir existieret» hat sicherlich zu diesem Schritt beigetragen. Erstaunlich, oder?
Möchtest du anderen queeren Migrant*innenkindern noch etwas mitgeben?
Mir existieret! Egal wie einsam du dich gerade fühlst – da draussen hat es Menschen, die sich für deine Story interessieren, sich mit dir identifizieren können und dich genau so lieben, wie du bist. Bleib dir treu und lass dir Zeit. Wir sind die neue Generation und können Tabus brechen.