Die Psychologie ist auch heute noch eine Disziplin, die dazu neigt, soziale, kulturelle und ökonomische Faktoren auszublenden um sich allein auf das Individuum und dessen Kernfamilie zu fokussieren. Sophia Schlör und Marina Jurisic fordern ein psychologisches Awarenesskonzept für Lehre, Forschung und Therapie. Zur Entwicklung dieses Konzepts haben sie eine Umfrage durchgeführt, an der viele queere Menschen teilgenommen haben.

“Gesell- schaftliche Machtverhältnisse wie Kapitalismus, Armut und Klassismus, (Hetero-)Sexismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit, Transfeindlichkeit, Ableismus, Bodyshaming usw. werden meist gar nicht mit psychologischen Kontexten in Verbindung gebracht.” schreiben Sophia Schlör und Marina Jurisic in ihrer Arbeit Open Call For Perspectives. Sie studieren angewandte Psychologie an der Zürcher Hochschule für angewandte Psychologie (ZHAW) und waren verdutzt, wie wenig Gespür viele Dozierende für Menschen haben, die in anderen gesellschaftlichen Umständen leben, wie sie selbst. Für einen Fachbereich, in dem die Mehrheit der Studierenden als cis, hetero, weiss, abel-bodied gelesen werden und mindestens dem Mittelstand angehören, bedeutet dies einen Fokus der Disziplin auf diese Bevölkerungsgruppe und einen blinden Fleck für psychische und gesellschaftliche Probleme und Erfahrungen aller anderen. Als eine Ursache des Problems nennen die beiden Student*innen, dass es in der Psychologie oft unterlassen wird, den eigenen Blickwinkel und die eigene gesellschaftliche Position zu reflektieren. Diese Nachlässigkeit führt dazu, dass die eigenen Privilegien als Norm angenommen werden und erschwert es, empathisch auf die Lebensverhältnisse anderer einzugehen, was essentiell wäre, um macht- und diskriminierungsinformiert zu therapieren. Was die gesellschaftliche Verortung von psychischem Leid im Therapieraum erschwert, sei die Rolle der Psychologie im kapitalistischen System. Diese bestehe unter anderem darin, Menschen wieder in die Wirtschaft zu integrieren, wo sie Profit generieren könnten. Um dies zu unterstreichen, erwähnt Sophia die Streitschrift von Angelika Grubner (2021) “Die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus”. Grubner zeigt, wie die Psychotherapie untrennbar mit dem Neoliberalismus verknüpft ist und die Idee eines machtfreien psychotherapeutischen Raumes eine “naive, irreführende Ilusion ist – mit erheblichen Konsequenzen.”
Sophia und Marina sind zum Schluss gekommen, dass es in der Psychologie ein Konzept braucht zum Umgang mit Machtverhältnissen und den Rahmenbedingungen von Patient*innen, um Diskriminierung zu vermindern und den Umständen von Hilfesuchenden gerechter zu werden. Die Umfrage, die sie zu diesem Zweck durchgeführt haben, konnte nicht nur durch Texte, sondern auch durch Gedichte, Bilder oder Audio beantwortet werden.

Das Resultat war für beide wenig überraschend. Diskriminierung und Inkompetenz im Umgang mit marginalisierten Patient*innen ist ein verbreitetes Problem.
So werden viele mit Unverständnis und Ablehnung oder schlicht mit Unfähigkeit konfrontiert, in Situationen, in denen sie dringend Hilfe bräuchten. “Aber was mir Hoffnung macht,” sagt Marina, “ist, wie widerständig viele der Betroffenen reagiert haben. Nach einer anfänglichen Phase der Betroffenheit und Unsicherheit, in der sie den Fehler bei sich selbst suchen, merken viele, dass es nicht ok ist, wie sie behandelt wurden.”
Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen leiden per se bereits unter einem Stigma, ohne dass sie sonst (einer) marginalisierten Gruppe(n) angehören. Im Fall einer Institutionalisierung ist das Machtverhältnis sogar physisch spürbar. Eine Person beschreibt ihre Erfahrungen so: “Gespräche, so denn sie überhaupt stattfinden, sind oft wenig feinfühlig, wenn du nicht in die Norm passt. Solltest du laut sein, Dinge kaputt machen, dich selbst verletzt haben oder dies wollen und dich aus menschlicher Perspektive ausserhalb des aushaltbaren Normativen bewegen, können sehr schnell ungewollte Dinge passieren. Pfleger*innen werden hektisch und rufen Psychiater*innen hinzu, während sie dich körperlich überwältigen. Es kann passieren, dass sie dich festhalten, dass sie dich in einen Raum zerren und auf eine Liege werfen, dich mit Gewalt fixieren und dich verletzen. Sie reden entweder nicht mit dir oder schreien dich an. Eventuell ziehen sie dich aus und durchsuchen deine Sachen. Sie zwingen dich, eine oder mehrere Tabletten zu schlucken oder stechen dir eine Spritze in den Arm. In der Regel ohne Kommunikation mit dir (…) Viele Personen, die in psychiatrischen Kliniken landen, machen dort strukturelle Gewalterfahrungen. Und falls es sie selbst nicht betrifft, müssen sie diese in der stationären Psychiatrie mit ansehen und/oder hören – denn dies ist der Normalzustand in der Akutpsychiatrie.”
Ein Teil des Problems ist, dass psychische Erkrankungen, im Vergleich zu körperlichen, nie ganz ernst genommen wurden, deshalb sind psychiatrische Kliniken chronisch unterfinanziert. Im schlimmsten Fall gibt es nicht genug Personal, um den Patient*innen Therapien anzubieten, die über das Verabreichen von Psychopharmaka hinausgehen.

Queere Menschen spezifisch machen zusätzlich die Erfahrung, dass sie keine oder nur schwer psychologische Hilfe finden können.
Oft müssen sie in einer schwierigen Situation auch noch eine aufwendige Suche durchführen, um ein*e passende Therapeut*in zu finden. Sie werden oft in der Therapie missverstanden, nicht ernst genommen oder auf ihre Identität reduziert. So schreibt ein Transmann, der ein Gutachten für seine Mastektomie benötigt hätte, dass sein Psychiater das Thema so lange ignorierte, bis er die Operation selbst bezahlte. “Wir diskutierten viel über Veganismus und dem für Herrn Müller scheinbar sehr wichtigen Thema des Nationalsozialismus in Deutschland. Nur am Rande sprachen wir aber über das eigentliche Thema, nämlich mein Verhältnis zu meinem Körper und die Gründe für meinen Operationswunsch.”
Nach der OP suchte er schliesslich die Konfrontation mit dem ehemaligen Therapeuten und wurde dabei von einer Fachperson des TGNS begleitet. Es ist symptomatisch, dass queere Menschen, die Unterstützung die sie bräuchten, nicht von der Krankenkasse bezahlt beziehen können, sondern auf freiwillige Care Arbeit ihrer Netzwerke angewiesen sind.
Zum Glück gibt es in der LGBTQIA* community NGOs, die entweder selber Beratungen durchführen oder Listen führen von queerfreundlichen Therapeut*innen. “Aber auch diese sind natürlich nicht immer aktuell und niemand überprüft wirklich, wie die Leute auf diesen Listen arbeiten. Im Grunde genommen bräuchte es einfach eine öffentliche Stelle, bei der Psychotherapeut*innen, die sich unprofessionell verhalten, gemeldet werden können.” sagt Marina.

Es ist ein guter Zeitpunkt, etwas zu bewegen
Als nächstes werden Sophia und Marina ihre Arbeit an der ZHAW vorstellen, aber wie sie die Idee ihres Awarenesskonzepts weiterziehen werden, wissen sie noch nicht. Allerdings sind sie nicht alleine. Auch in anderen Ländern formt sich eine Bewegung, die mehr Selbstreflektion und den Einbezug von gesellschaftlichen Umständen in der Psychologie fordert. “Das Thema ist aktuell”, sagte Sophia, “Es ist ein guter Zeitpunkt, etwas zu bewegen.”

 

Freiwillige Netzwerke, zur Unterstützung im Umgang mit psychischen Krankheiten
Netzwerk psychische Gesundheit Schweiz – https://www.prevention.ch/organisation/réseau-santé-psychique-suisse
VASK – Verein für Angehörige psychisch erkrankten – https://www.vask.ch/de/
Die dargebotene Hand – Tel. 143

LGBTQIA* Anlaufstellen, die selber Beratungen anbieten
Checkpoint https://www.cpzh.ch/psychologie/
Pink Cross – https://www.pinkcross.ch/de/beratung
lgbtqi helpline – https://www.lgbtiq-helpline.ch/de/beratung
haz – https://www.haz.ch/angebot/beratung/

Listen queerfreundlicher Therapeut*innen
Project Santé Gaie https://www.santegaie.ch/de/projekte-kooperationen/die-liste-der-gay-freundlichen-therapeuten/
Fachgruppe Trans – https://www.fachgruppetrans.ch/infos-vernetzung