Schwule, welche die SVP oder den Front National unterstützen; rechtspopulistische Parteien, die mit LGBTIQ-Argumenten gegen Muslim*inne hetzen – was ist da los? Der Berliner Queer-Theoretiker Volker Woltersdorff über Homonationalismus, Pinkwashing und die politische Instrumentalisierung der Queer-Community.

 

Im Wahlkampf um das Berliner Stadtparlament warb die rechtspopulistische AfD letzten Sommer mit Plakaten, auf denen zwei Männer zu sehen waren und das Zitat: «Mein Partner und ich legen keinen Wert auf die Bekanntschaft mit muslimischen Einwanderern, für die unsere Liebe eine Todsünde ist.» Wissen Sie, wie gut das bei der Zielgruppe angekommen ist?

Es gibt keine wissenschaftlich fundierten Erhebungen dazu. Ich weiss nur, dass dieses Plakat in der Community auf sehr viel Ablehnung stiess und kontrovers diskutiert wurde. Viele Plakate wurden zerstört und Fotos von zerstörten Plakaten in sozialen Netzwerken gepostet. Ich denke trotzdem, dass das Plakat einen Nerv bei solchen Homosexuellen traf, die Ängste und Vorurteile gegenüber Migrant*innen und dem Islam haben. Es bedurfte aber nicht erst des AfD-Plakats, um solche Einstellungen hervorzurufen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wie Rassismus, Islamfeindlichkeit, Klassismus und Behindertenfeindlichkeit, gibt es selbstverständlich auch unter homosexuellen Menschen. Aktuell läuft an der Universität Kiel eine Studie, die die Einstellung sexueller Minderheiten gegenüber anderen Minderheiten untersucht. Ich weiss leider nicht, ob es schon erste Ergebnisse gibt.

Da wurde also mit der einen Minderheit Stimmung gegen eine andere gemacht. Ziemlich perfid auch deshalb, weil die AfD der LGBTIQ-Community nicht eben positiv gegenüber steht, oder?

Hier möchte ich differenzieren: Es handelt sich nur dann um zwei verschiedene Minderheiten, wenn man davon ausgeht, dass es keine Homosexuellen unter den muslimischen Migrant*innen und keine muslimischen Migrant*innen unter den Homosexuellen gibt. Zudem ist die Haltung der AfD gegenüber sexueller Vielfalt und Selbstbestimmung gegenwärtig noch widersprüchlich. Es gibt unterschiedliche Flügel, und es ist noch nicht ganz klar, welcher sich durchsetzen wird. Das besagte Plakat kann aber nur solange seine mobilisierende Wirkung entfalten, wie die Homofeinde in der Partei nicht völlig gewonnen haben.

Aber es ist ein klassischer Fall von Homonationalismus, richtig? Man benutzt homofreundliche Politik, um andere gesellschaftliche Gruppen zu diskreditieren.

Ich würde Homonationalismus eher so definieren: Ein Nationalismus, der die eigenen nationalen Machtansprüche auch daraus ableitet, dass er für sich beansprucht, die Emanzipation der Homosexuellen realisiert zu haben – auch wenn dies meistens nicht einmal der Fall ist. Im Falle des AfD-Plakats wird unterstellt, dass die Einstellung, Homosexualität sei eine Todsünde, ein Problem muslimischer Einwanderung sei. Homosexueller Geschlechtsverkehr ist aber auch im katholischen Katechismus eine schwere Sünde. Doch vor Katholik*innen scheint die homofreundliche Nation in diesem Diskurs nicht geschützt werden zu müssen. Andere Beispiele für Homonationalismus (und Femonationalismus) sind die Angriffskriege gegen den Irak und Afghanistan, die auch mit der Durchsetzung von Frauen- und Homo-Rechten gerechtfertigt wurden.

Haben Sie den Eindruck, dass dieses Phänomen in der westlichen Welt in den letzten Jahren zugenommen hat?

Homonationalismus konnte sich erst entwickeln, nachdem gemässigte Toleranz gegenüber Homosexualität im gesellschaftlichen Mainstream angekommen ist. Verschärft hat sich diese Strategie allerdings vor allem seit dem 11. September 2001. Jasbir Puar, die diesen Begriff in kritischer Absicht geprägt hat, stellt ihn in einen direkten Zusammenhang mit dem «War on Terror» der Bush-Administration. Doch auch in Europa gab es schon um die Jahrtausendwende solche Politikstrategien, zum Beispiel in den Niederlanden mit Pim Fortuyn, einem offen schwulen und islamfeindlichen Politiker.

Gibt es noch andere «Opfer» als Muslim*innen?

In der Tat sind sie die Hauptadressat*innen. Doch auch andere migrantische Gemeinschaften können gemeint sein, wenn sich auf sie Vorstellungen einer vormodernen, archaischen und patriarchalen Kultur projizieren lassen, die die eigene Nation vermeintlich hinter sich gelassen hat. Arme, prekarisierte und proletarische Milieus können ebenfalls diese Vorurteile verkörpern.

Sind die Urheber*innen meist Parteien, die nach einer neuen Zielgruppe fischen?

Ich würde eher sagen, dass die Urheber*innen nach neuen Legitimationen fischen, um eine nationale, imperiale und rassistische Agenda durchzusetzen und nach neuen Mehrheiten dafür suchen. Sie greifen dabei als progressiv geltende Positionen heraus, mit denen ihre Agenda für neue Bevölkerungsgruppen anschlussfähig wird. Homos oder die LGBTIQ-Community stehen dabei als Zielgruppe gar nicht im Vordergrund, sondern eher solche, die mit LGBTIQ-Emanzipation vage sympathisieren. Homonationalistische Strategien finden sich in einem breiten Spektrum der Gesellschaft und Politik. Sie lassen sich gar nicht so leicht auf bestimmte Parteien beschränken, auch wenn sie gehäuft im Mitte-Rechts-Spektrum auftreten.

Homonationalistische Politikstrategien versuchen, eine notwendige Verbindung von sexueller Emanzipation und national-imperialer-rassistischer Agenda zu suggerieren. Wir dürfen das nicht abkaufen.

Gibt es Anzeichen, dass das bei der LGBTIQ-Community verfängt?

Einerseits gibt es dazu noch zu wenig belastbares empirisches Material. Andererseits würde ich auch vor einem Bild warnen, das eine unschuldige Queer Community zeichnet, die von bösen Parteien manipuliert wird. Nationalistische, imperialistische, rassistische und klassistische Strukturen prägen unsere Gesellschaften und daher selbstverständlich auch die Queer Community. Homonationalistische Argumente gab es unter anderem im LSVD (Lesben- und Schwulenverband in Deutschland) oder in der queeren Presse, vor allem in der Zeitschrift «Männer» unter ihrem mittlerweile geschassten Chefredakteur David Berger. Im Zuge der Flüchtlingskrise gab es in der deutschen Queer Community beispielsweise eine breite Auseinandersetzung über die Gefahren für hier lebende queere Menschen, die möglicherweise aus der Zuwanderung erwachsen oder auch nicht.

Dass die Community nicht immun ist gegenüber Rechtspopulist*innen zeigt sich in Frankreich: In Paris soll gemäss einer Umfrage ein Viertel der Gays den Front National unterstützen und nur 16% der Heteros. Ausnahme oder Trend?

Da würde mich erst einmal interessieren, wie diese Umfrage entstanden ist und auf welches Datenmaterial sie sich stützt. Zur französischen Situation kann ich nur sagen, dass der Front National offen schwule Funktionäre hat und keine aggressive Politik gegen Homos betreibt. Bei den sogenannten «Demos für alle» (Manifs pour tous) gegen die «Ehe für alle» hat er sich auffallend zurückgehalten. Ähnliches kann man auch von der österreichischen FPÖ sagen. Es gibt nämlich auch in der Rechten ein eher antiklerikales Milieu, das eine andere Sexualpolitik verfolgt als die christlich-fundamentalistische Rechte. Man kann nur hoffen, dass rechten Bündnissen dieser Widerspruch bald um die Ohren fliegen wird!

Mit der breiteren Akzeptanz von LGBTIQ-Lebensentwürfen haben sich auch die politischen Sympathien ausgeweitet. Stimmt der Eindruck, dass man früher fast aus Prinzip links war (weil man dort auf Sympathien stiess) und inzwischen sehr viel bürgerlicher geworden ist? Auch in den Lebensentwürfen, man will heiraten und Kinder …?

In dieser Frage gibt es mehrere Annahmen, die ich in Zweifel ziehen würde: Diese breitere Akzeptanz betrifft vor allem mainstreamtaugliche (sogenannte homonormative) lesbische und vor allem schwule Lebensweisen – transsexuelle, queere und intersexuelle dagegen schon sehr viel weniger. Ausserdem würde ich nicht jede Form des Lebens mit Kindern als eine Verbürgerlichung sehen. Auch die grundsätzliche Sympathie in der Linken gilt so nicht. Die Linke hat eine gewichtige homophobe Tradition (und Gegenwart). Umgekehrt gab es Sympathien auch im liberalen und rechten Spektrum. Schliesslich würde ich auch nicht sagen, dass es früher mehr Linke in der LGBTIQ-Community gab als heute, nur sind heute diejenigen, die sich nicht als links verstehen, sichtbarer als früher, weil sie sich nicht mehr so verstecken müssen. Es gibt heute in fast allen deutschen Parteien bis auf die NPD homosexuelle Arbeitskreise, auch in der AfD. Warum sollte auch aus einer sexuellen Identifizierung notwendig eine bestimmte politische Positionierung folgen? In Abwandlung eines Filmtitels von Rosa von Praunheim würde ich daher sagen: «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern das, was er daraus macht.»

Aber wie erklären Sie sich die Unterstützung von Parteien, deren Programme tendenziell LGBTIQ-unfreundlich oder gar -feindlich sind? Wie bringt man es als Schwuler innerlich unter einen Hut, in der Schweiz die SVP oder in den USA die Republikaner zu unterstützen, welche immer alles unternommen haben, um eine rechtliche Gleichstellung zu torpedieren?

Jeder und jede setzt eigene politische Prioritäten. Wem es wichtiger ist, von rassistischer Politik zu profitieren als heiraten zu können, wird eine entsprechende Entscheidung treffen (wobei sich beide Möglichkeiten leider nicht ausschliessen müssen). Genauso gut könnte man fragen, warum es homosexuelle Katholik*innen oder Armeeangehörige gibt. Politisches Handeln muss immer Kompromisse eingehen. Wir können nur wählen, welche Kompromisse uns lieber sind als andere.

Es besteht keine besondere moralische Verpflichtung, als Angehörige*r einer Minderheit politisch klüger zu sein als der Rest.

Müsste man nicht denken, dass es den Angehörigen einer lange mit klischierten Vorurteilen verfolgten Minderheit schwerer fallen sollte, nun selbst andere Minderheiten mit klischierten Vorurteilen herabzusetzen?

Das wäre selbstverständlich wünschenswert. Tatsächlich ist es aber nicht so, und es besteht meines Erachtens auch keine besondere moralische Verpflichtung, als Angehörige*r einer Minderheit politisch klüger zu sein als der Rest. Die Erfahrung von Unterdrückung birgt aber ein herrschaftskritisches Potenzial, das wir uns zunutze machen können und von dem die ganze Gesellschaft lernen kann, wenn sie denn bereit ist, sich darauf einzulassen. In meiner politischen Arbeit erlebe ich immer wieder, dass Menschen aufgrund eigener Diskriminierungserfahrungen auch anderen diskriminierten Gruppen besondere Empathie entgegenbringen. Das ist aber kein Automatismus. Vielmehr müssen wir unsere Verwicklung in Herrschaftsstrukturen mühsam erkennen und verlernen, wie die postkoloniale und queerfeministische Denkerin Gayatri Chakravorty Spivak sagt.

Eine andere Art politischer Instrumentalisierung der LGBTIQ-Community findet in Bezug auf Israel statt: Tendenziell linke Gruppierungen werfen der israelischen Regierung vor, Pinkwashing zu betreiben – sich also gegenüber LGBTIQ fortschrittlich zu geben, um davon abzulenken, wie schlecht sie die Palästinenser*innen in der Region behandeln. Wie beurteilen Sie diese Debatte?

Im Grunde ist Pinkwashing eine Spielart des Homonationalismus, die es nicht nur in Israel gibt. Koray Yılmaz-Günay und Salih Alexander Wolter sprechen daher auch von «Pinkwashing Germany», wenn sie über deutschen Homonationalismus reden. Ein Staat versucht sich als vermeintliches Musterland der LGBTIQ-Emanzipation darzustellen und damit von eigenen Mängeln abzulenken und Überlegenheitsansprüche zu formulieren. Ich finde es richtig, dieser staatlichen Selbstbeweihräucherung nicht aufzusitzen. Jasbir Puar, die eine Kritikerin des israelischen Pinkwashings ist, weist aber auch darauf hin, dass man Pinkwashing immer im Zusammenhang mit sogenanntem Pinkwatching sehen muss: Wer ist das Publikum, vor dem sich ein Staat als besonders LGBTIQ-freundlich inszeniert und inszenieren muss?

Offenbar ist die LGBTIQ-Community mittlerweile eine interessante Gruppe, die im politischen Mainstream-Diskurs thematisiert wird. Aber tendenziell noch immer eher dann, wenn es gerade für die eigenen Positionen nützlich ist. Oder haben Sie den Eindruck, dass es inzwischen irgendwo mehr ist als das?

Ich frage mich ehrlich, ob die Queer Community als Gruppe interessant ist oder nicht eher deren Instrumentalisierung für politische Zwecke unterschiedlicher Couleur. Es werden ja auch jeweils unterschiedliche Aspekte der Queer Community ins Zentrum gestellt, sei es die Distanz zu religiösen Fundamentalismen, die Bereitschaft zum neoliberalen Selbstunternehmertum oder die hedonistische Konsumfreude. Dabei ist die Queer Community keine homogene Gruppe, sondern genauso von Widersprüchen und Antagonismen durchzogen wie der Rest der Gesellschaft. Angesichts des erstarkenden Rechtspopulismus zeigt sich gerade in allen Parteien des politischen Spektrums, dass viele bereit sind, das Thema zugunsten angeblich ernsterer Angelegenheiten zu opfern.

Was müsste man tun, um beim Homonationalismus Gegensteuer zu geben? Oder zumindest ein weiteres Wachstum zu verhindern?

Homonationalistische Politikstrategien versuchen, eine notwendige Verbindung von sexueller Emanzipation und national-imperialer-rassistischer Agenda zu suggerieren. Wir dürfen das nicht abkaufen. Emanzipation, die ihre Verwirklichung nur mit neuer Herrschaft über andere erkauft, ist keine. Ebenso wenig sollten wir homogenisierenden und idealisierenden Vorstellungen von Identitäten Glauben schenken. Solche Vereinfachungen sind bequem, aber falsch. Wir leben in einer Welt, in der die Vielfalt von individuellen Gruppenzugehörigkeiten zunimmt, auch wenn die untereinander nicht immer reibungsfrei sind. Weder die Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen, noch die uns fremden Gruppen sind frei von Homophobie.

 

 Volker Woltersdorff (45) ist freischaffender Queer-Theoretiker und Bio-Bauer im Berliner Speckgürtel. Er arbeitete zuvor unter anderem für die Freie Universität und das ICI (Institute for Cultural Inquiries) in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorien von Geschlecht, Sexualität und Herrschaft, Sadomasochismus, subkulturelle Ästhetiken und die intersektionale Analyse von Heteronormativität und Kapitalismus.