Die Lesbenorganisation Schweiz (LOS) hat letzten Herbst auf die Diskriminierung von Lesben durch Schwule, Medien und die Öffentlichkeit aufmerksam gemacht. Ein Essay von Gastautorin Barbara Guth erklärt die Zusammenhänge.

Eine ausführliche Version dieses Textes ist hier zu finden.

Auslöser für diesen Beitrag über die «Unsichtbarkeit» von Lesben war eine Diskussion mit einem schwulen Kollegen über Sexismus und Gleichberechtigung der Geschlechter. Resultat: Ich schreibe darüber. Ein innerer Widerstreit setzte ein. Das Thema zweifellos wichtig, aber: Was ist bis 2017 nicht klar geworden? Muss ich wirklich nochmals aufzeigen, was Frauen längst schon erkannt, analysiert, kommuniziert haben? Ist das in Köpfen und Herzen noch immer nicht angekommen?

Ja, ich muss. Wiederholen, wofür Frauen seit ewig kämpfen, aufzeigen, dass sich auch heute noch Stereotypen, Rollenzuschreibungen, Ungleichbehandlungen, Ungerechtigkeiten aufgrund des Geschlechts hartnäckig halten – das Patriarchat scheint sich zwar aus dem Wortschatz verabschiedet zu haben, im Verhalten von Menschen hat es unter dem Deckmantel der Moderne weiterhin seinen festen Platz. Von Heteronormativität ganz zu schweigen. Kurz: Mann bevorteilt, anhand einer für natürlich gehaltenen Einteilung der Gesellschaft in Mann und Frau.

Wir haben uns in der Schweiz vorwärtsbewegt. Und wieder rückwärts. Lesbisch­ oder Schwulsein ja, ok, aber bitte nicht zu nah, nicht in meinem Umfeld. Und was heisst «gleich»? Gleich im Sinne von Gleichbehandlung, gleichen Rechten, frei von Geschlechtsstereotypen, wie ein Mensch zu sein hat. Das heisst Orientierung nicht an traditionellen Rollenbildern, sondern an «der Vision einer Gesellschaft von selbstbestimmten Individuen, in der dem Merkmal Geschlecht nicht mehr Wirkungsmächtigkeit als beispielsweise dem Merkmal Haarfarbe zukommt», wie Terre des Femmes schreibt. Wir brauchen Menschen, welche die ganze Bandbreite, die der Begriff Vielfalt bietet, als gleich erachten.

Wer mehr Macht hat, hat mehr Möglichkeiten

Frauen dürfen also seit einer Weile arbeiten gehen. Nicht zu hoch hinaus, nicht zu gleich. Strukturelle Ungleichheit etwa bei den Löhnen ist immer noch ein grosses Problem. Ebenso erhalten Projekte und Kampagnen mit «Frauenanliegen» grundsätzlich weniger staatliche Fördergelder. Daraus folgt: Wer mehr Macht und Mittel hat, kann sich leichter bemerkbar machen.

Doch das alles wird heute gerne ebenso verleugnet wie noch immer existierender Sexismus. Wer sagt also, was richtig und falsch ist, natürlich und unnatürlich? Welche Ordnung wird gestört? Auch aus Unwissen resultieren homo- oder transphobe Haltungen. Es beginnt früh mit ablehnenden Reaktionen, selbst unter Freund_innen und Kolleg_innen. Lesben und andere queere Menschen sind im traditionellen Gesellschaftssystem nicht vorgesehen.

Die Themen mischen sich. Rechtliches und Menschliches. Diskriminierung, Benachteiligung von Frauen. Starres Denken, starre Begriffe schliessen Entwicklung, Gleichstellung und gleichzeitig Diversität hartnäckig aus. Und Sprache schafft Wirklichkeit. Begriffe sind die Basis für selbstbewusste Identitäten, gleichzeitig aber auch für Stigmatisierung und Ausgrenzung.

Lesbenthemen verkaufen sich weniger gut

Menschen neigen nicht nur dazu einzuteilen, sondern auch zu bewerten, abzuwerten und damit zu spalten – selbst innerhalb der LGBT­-Bewegung. Selbst innerhalb der einzelnen Gruppierungen. Ich bin besser, stärker, richtiger als du… Kategorisieren. Hierarchisieren. In der Community, in der Vielfalt stets ein Grund zu Stolz war, spielen die gleichen gesellschaftlichen Phänomene wie sonst in der Gesellschaft, bestimmen Geschlechter­stereotype den Umgang miteinander, herrschen Vorstellungen, wie jemand zu sein hat. Ich spreche hier sowohl von schwulem Sexismus als auch von Transphobie.

Es wird eingeteilt, abgewertet, verspottet, abgelehnt. Etwa wenn eine Frau zu männlich erscheint, ein Mann zu feminin – dabei bietet Diversität eine ganze Auswahl an Sein. Weshalb diese Angst vor zu viel Freiheit? Vor Gleichheit? All das schwächt die gesamte Bewegung. Politischen Aktionen wird so der Wind aus den Segeln genommen, auch seitens der Medien. Schwule Themen gehören dort heute zum guten Ton. Mit einem Fokus auf erfolgreiche, weisse, schwule Männer. Und auf traditionelle Rollenbilder. Lesbenthemen hingegen verkaufen sich weniger gut.

Und woher soll Toleranz kommen, wenn selbst bei Jugendlichen bereits Angst und Unwissen herrschen? 1994 musste ich mir anhören, lesbische Frauen sollten keine Mädchen trainieren, das sei zu gefährlich. Fünf Jahre vorher hiess es, dass weibliche Jugendliche und Frauen keinen Spitzensport ausüben sollten. Die typische Diskriminierung als Frau und als Lesbe. Aber es ist nicht gelungen, mir dieses männliche Denken überzustülpen. Wohl auch deshalb nicht, weil in meinem Umfeld von 50 Frauen etwa 48 sexuelle Übergriffe erlebt haben. Und es Frauen selten in den Sinn kommt, ihre Macht sexuell zu missbrauchen.

Lesben werden doppelt diskriminiert, als Frauen und als Lesben. Während schwule Männer aufgrund ihres Geschlechts Vorteile haben, erleben Frauenpaare auch 2017, wenn sie gemeinsam unterwegs sind, Pöbeleien und Angriffe, verbal oder körperlich. Am Arbeitsplatz, im Verein, auf der Strasse, es kann überall passieren. Klar, manchmal trifft es auch Schwule. Und allein in den vergangenen 12 Monaten wurden laut TGNS in 33 Ländern 295 Transpersonen ermordet.

Das eigene Verhalten der Vielfalt anpassen

Auch 2017 noch werden gerade jene Frauen, die sichtbar sind, ihre Stimme erheben, Verantwortung übernehmen, angegriffen und abgewertet. Selbst aus den eigenen Reihen. Und wer nur einen Funken Verstand, Anstand und Gespür besitzt, weiss genau, welches Verhalten gegenüber Menschen angebracht ist und welches nicht. Umso wichtiger ist es, über die hier mehrfach in diesem Artikel aufgeführten Begriflichkeiten und Probleme nachzudenken, anstatt zu behaupten, diese Probleme gebe es nicht. Nicht Vielfalt ist unnatürlich, sondern unnatürlich ist, sich nicht weiterentwickeln, nicht lernen zu wollen.

Es sind die gleichen Machtstrukturen, die alte und neue soziale Ungleichheiten produzieren. Deshalb ist die von der LOS angefachte Diskussion über schwulen Sexismus so wichtig – und das Statement von Tobias Kuhnert, Queeramnesty, so willkommen. Er äusserte sich zu einer Umfrage auf einer LGBT­-Plattform, die gefragt hatte, ob es schwulen Sexismus gegenüber Lesben gibt, folgendermassen: «Diese Frage kann gar nicht mit Nein beantwortet werden. Was die LOS berichtet, ist schwuler Sexismus: Sexismus (Abwertung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts), der von Schwulen ausgeht. Da gibt es nichts zu diskutieren. Was ihr fragen könnt ist, ob mensch schwulen Sexismus wahrnimmt oder ihn als Problem anschaut. Die Frage (Gibt es schwulen Sexismus?) hingegen ist purer patriarchaler Sexismus: Sie ermöglicht es, die sexistischen Erfahrungen, die Frauen* machen, komplett zu negieren und spricht den Betroffenen damit ihre Mündigkeit ab.»

Der Gesellschaftstanz geht also weiter, vorwärts, rückwärts, vorwärts – in der Hoffnung auf gemeinsame Schritte und ein Wir, das ungleich gleich wieder stolz ist.