Stefan Faust und Simon Meier leiten seit Anfang Jahr gemeinsam Queeramnesty. Ein Gespräch über die aktuelle Lage der Gruppe, anstehende Herausforderungen und Zeichen der Hoffnung.
Seit wann und weshalb engagiert ihr euch bei Queeramnesty?
Simon: Ich habe mich letztes Jahr auf die Anzeige gemeldet, mit der eine neue Co-Gruppenleitung gesucht wurde. Das Timing war perfekt, da mir nach den ersten paar Monaten Corona-bedingter Kurzarbeit zu Hause langsam langweilig wurde. Ich fand, dass ich mit dieser Zeit auch etwas Sinnvolles tun könnte.
Dass es Queeramnesty wurde, war also eher Zufall?
Simon: Ja. Ich hatte gerade angefangen, mich im NGO-Bereich umzusehen, als die Anzeige im Newsletter kam, und hatte mich daher noch auf nichts festgelegt. Zudem hat mich die Aufgabe der Gruppenleitung speziell gereizt, weil man mehr mitprägen kann und in viele Bereiche reinsieht. Und ich bekam bereits regelmässig den Newsletter, so hatte ich schon eine Vorstellung über die Aktivitäten der Gruppe.
Stefan: Ich bin in einem beruflichen Veränderungsprozess – die letzten Jahre hatte ich als Unternehmensberater und Banker gearbeitet und war bereits einige Zeit auf der Suche nach etwas, das mehr Sinnerfüllung bietet, etwa im gemeinnützigen Bereich. Minderheitenrechte sind mir schon länger ein Anliegen, und ich hatte mir bereits diverse Organisationen genauer angesehen, etwa Sea Shepherd oder Extinction Rebellion. Auf Queeramnesty kam ich durch einen Freund, der dort schon lange engagiert ist. Und kaum war ich letztes Jahr Mitglied, stiess ich dann auf das Inserat wegen der Gruppenleitung. Ursprünglich wollte ich als Betreuer bei Focus Refugees mitarbeiten, aber nun möchte ich mich aus zeitlichen Gründen vor allem auf die Gruppenleiter-Funktion konzentrieren. Sie entspricht auch eher meinen Fähigkeiten.
Kaum Mitglied und gleich die Leitung übernehmen – wie war das?
Simon: Als ich mich beworben habe, war ich ehrlich gesagt schon etwas unsicher, ob das überhaupt realistisch ist. Ich war dann aber positiv überrascht, wie unkompliziert das Ganze ablief.
Stefan: Es ist gemäss unserem Vorgänger Jens nicht so einfach, Freiwillige zu finden, die diese Funktion übernehmen wollen. Aber da kein Vorwissen notwendig ist, habe ich mir die Gruppenleiter-Funktion dann auch zugetraut.
Simon: Im Gespräch mit Jens kam dann ganz gut rüber, was die Aufgabe genau beinhaltet – und er selbst war auch noch nicht lange dabei, als er damals in die Gruppenleitung kam. Wir sind ja auch nicht die Chefs, die jetzt befehlen, wo es lang geht, es ist eine kooperative Zusammenarbeit mit allen Aktivist*innen.
Stefan: Im Grunde ist es eine Koordinationsfunktion.
Ihr habt euch zuvor nicht gekannt?
Stefan: Nein. Aber ganz zu Beginn haben wir uns mal getroffen, um zu sehen, ob die Chemie stimmt. Das ist ja schon noch wichtig. Und es war schnell klar, dass das passt. Ich finds auch gut, dass wir aus unterschiedlichen Generationen stammen und somit andere Perspektiven einbringen.
Fandet ihr die basisdemokratischen Entscheidungsprozesse zu Beginn ein wenig gewöhnungsbedürftig?
Stefan: Schon ein bisschen. Entscheide benötigen dadurch ziemlich viel Zeit. Aber offensichtlich funktioniert es doch ganz gut, und es hat klar auch positive Qualitäten, etwa dass sich alle gleichermassen einbringen können.
Simon: Es ist sicher eine Herausforderung. Aber da wir alle uns hier freiwillig und ehrenamtlich engagieren, braucht es das meiner Meinung nach auch.
Wie teilt ihr euch die Arbeit auf?
Simon: Das ergab sich recht organisch aus unseren Interessen und Vorlieben. Stefan beschäftigt sich stärker mit Organisatorischem und dem Asylbereich, ich mich mit Kampagnen und Kommunikation.
Stefan: Mir ist ausserdem wichtig, dass wir einen Dialog mit anderen Gruppen haben. Wir haben deshalb nun Termine mit Pink Cross, LOS, TGNS, Amnesty, um zu sehen, was es dort für Bedürfnisse gibt und in welchen Bereichen wir zusammenarbeiten und voneinander profitieren können. Die Leute dort besser zu kennen, hilft uns auch für unsere Arbeit.
Stefan Faust (49) ist ursprünglich Architekt, arbeitet heute als Yoga- und Meditationslehrer sowie Unternehmensberater. Er wohnt in Zürich und lebt seit Jahren in einer eingetragenen Partnerschaft. Er mag Kunst und Fotografie.
Was läuft gut bei Queeramnesty, was wollt ihr künftig anders machen?
Stefan: Alles in allem läuft es gut. Klar, man kann immer noch mehr machen. Aber ich finds bemerkenswert, wie selbständig die Untergruppen funktionieren, etwa Focus Refugees oder das Redaktionsteam. Da gibt es gut eingespielte Prozesse und Leute, die viel von ihrer Freizeit einsetzen. Schön wäre, wenn wir bei den Kampagnen noch etwas mehr Leute hätten, die sich aktiv engagieren – und vielleicht auch schon etwas Erfahrung mitbrächten. Dort haben wir mehr gute Ideen als Aktivist*innen, um sie umzusetzen. Generell wäre es toll, noch mehr Freiwillige zu haben, gerne auch mehr Mentor*innen zur Betreuung von Geflüchteten, besonders in ländlichen Regionen.
Simon: Ich sehe das sehr ähnlich. Und ich staune, dass doch auch im Kampagnen-Team recht viel läuft, obwohl es an ein paar wenigen Personen hängt. Das ist natürlich auch ein gewisses Risiko: Wenn besonders engagierte Leute plötzlich ausfallen, könnte es rasch schwierig werden. Schön wäre, wenn wir wichtige Aufgaben auf etwas mehr Personen verteilen könnten. Umso zentraler ist es, die Interessen von Neumitgliedern mit den Bedürfnissen der Gruppe gut abzustimmen, so finden sich vielleicht Leute für Aufgaben, bei denen wir ohnehin mehr Kapazität bräuchten.
Stefan: Wichtig scheint mir auch, bei jenen nachzuhaken, die motiviert einsteigen, von denen man aber schon nach einigen Wochen plötzlich nichts mehr hört. Da sollten wir systematischer nachfragen und rausfinden, was die Gründe sind. Vielleicht liessen sich so mehr dieser Leute zum Bleiben motivieren.
Die Kooperation mit Amnesty Schweiz war in der Vergangenheit nicht immer ganz harmonisch, wie erlebt ihr das?
Simon: Davon haben wir gehört – lustigerweise von beiden Seiten. Deshalb treffen wir uns jetzt auch mit Vertreter*innen von Amnesty mit dem Ziel, eine gute Zusammenarbeit aufzugleisen und regelmässigen Austausch zu gewährleisten.
Stefan: Bis jetzt hat sich das ganz gut angelassen, es gibt viele positive Signale. Amnesty will künftig auch aktiver bei LGBTI*-Themen auf uns als Expert*innen zukommen.
Simon: Sie haben zum Beispiel immer wieder Medienanfragen zu queeren Themen und wären wohl ganz froh, wenn wir sowas ab und zu übernehmen könnten. Sie bieten dafür auch Medien-Workshops an, in denen man sich entsprechend weiterbilden kann.
Wie hat sich die Corona-Zeit auf die Arbeit von Queeramnesty ausgewirkt?
Stefan: Für die Geflüchteten war es schwierig, weil der physische Austausch zwischen ihnen und den Betreuer*innen reduziert werden musste. Insbesondere die ausgefallenen Treffen in den Welcome Cafés sind für viele sehr hart. Es sind wohl auch insgesamt weniger Geflüchtete in die Schweiz gekommen, entsprechend gab es weniger Anfragen an uns. Das haben wir umso mehr gemerkt, als der Trend zuvor eher nach oben ging – dank unseren Flyern bekommen mehr Geflüchtete mit, dass es uns gibt. Und natürlich waren wegen Corona viel weniger Kampagnen und Veranstaltungen möglich.
Simon: Generell hat das Soziale gelitten – auch gruppenintern. Die jährliche Retraite fördert den Zusammenhalt der Aktivist*innen eben schon auch, deshalb möchten wir dieses Jahr auch unbedingt wieder eine durchführen. Anders als wie üblich Ende Jahr findet die Retraite diesmal am 5. September statt.
Simon Meier (30) arbeitet im Marketing bei der Swiss, wohnt in Zürich und ist derzeit single. Er mag Netflix-Serien und Animes, liest gerne, spielt Games und hofft, dass er bald wieder reisen kann.
Wie geht es der Gruppe finanziell?
Simon: Gut. Corona hatte bisher keinen Einfluss auf die Spenden, mal sehen, wie es dieses Jahr weitergeht. Und Kosten hatten wir eher weniger, weil wegen der Pandemie einiges nicht stattfinden konnte.
Welches sind inhaltlich die grössten Herausforderungen für Queeramnesty?
Simon: In der westlichen Welt gab es in den letzten Jahren grosse Fortschritte für Lesben und Schwule, in der Schweiz ist endlich auch die «Ehe für alle» in Sichtweite. Für trans und inter Menschen hingegen gibt es noch immer viele rechtliche Benachteiligungen – das ist die nächste grosse Baustelle. Und auch eine Herausforderung für uns, da unsere Aktivist*innen überwiegend schwul oder lesbisch sind und sich somit nicht aus eigener Betroffenheit in diesem Bereich engagieren können. Möglicherweise hatten wir das deshalb bisher weniger im Fokus. Wir müssen uns da wohl auch erst noch mehr Wissen aneignen.
Stefan: Aber auch für Lesben und Schwule ist noch nicht alles, wie es sein sollte. Es fehlt zum Beispiel weiterhin eine nationale Hate-Crime-Statistik. Und auch hierzulande gibt es strukturelle und systemische Diskriminierung. Es kann doch nicht sein, dass schwule Sportler noch immer Angst haben vor einem Coming-out. Erfreulich ist, dass die Diskriminierung von Minderheiten in letzter Zeit verstärkt in den öffentlichen Fokus rückte – aber da ist auf jeden Fall noch sehr viel zu tun. Die dominierende weisse männliche Sicht ist so tief in uns drin, dass wir oft gar nicht merken, dass es auch andere, genauso wertvolle Perspektiven gibt. Um das anzugehen, muss man sich mit seinen eigenen Verhaltensmustern, Glaubenssätzen, Unsicherheiten und Abgründen auseinandersetzen, sie in Frage stellen, an ihnen arbeiten – und das fällt niemandem leicht. Ziel sollte sein, dass Diversität in all in ihren Formen nicht nur akzeptiert, sondern als etwas Natürliches, Positives und Bereicherndes gesehen wird.
Simon: Für die Veränderung von rechtlichen Diskriminierungen zu kämpfen, ist verglichen damit fast schon einfach. Diese Herausforderung braucht mehr, als eine Lobbygruppe zu gründen und Entscheidungsträger*innen zu bearbeiten.
Wie bekommt Queeramnesty mehr diverse Aktivist*innen? Etwa trans Menschen oder Leute mit Migrationshintergrund?
Stefan: Wir müssen das auf jeden Fall aktiv anstreben. Der einfachste Weg ist vermutlich, sie ganz direkt anzusprechen – persönlich oder mit konkreten Veranstaltungen.
Simon: Allenfalls über unsere Kontakte zu anderen Gruppen und ehemaligen Geflüchteten, die wir unterstützt haben. Vielleicht können wir dort Leute motivieren, sich auch bei uns zu engagieren.
Was wird die Gruppe 2021 beschäftigen?
Stefan: Da wir 2020 zum Fokusthema Polen und Osteuropa wegen Corona viel weniger machen konnten als geplant, bleibt dies auch dieses Jahr auf der Agenda. Zudem organisieren wir gemeinsam mit Queeramnesty Deutschland eine grosse Online-Konferenz aller weltweiten queeren Amnesty-Gruppen für den September. Ziel ist eine bessere Vernetzung und ein Themen- und Erfahrungsaustausch. So kann man vielleicht gegenseitig gute Ideen übernehmen, die anderswo bereits funktioniert haben.
Simon: Möglicherweise lassen sich sogar Aktionen international koordinieren. Insgesamt werden Gruppen aus fast 20 Ländern rund um die Welt teilnehmen.
International scheint es mehr Rückschritte zu geben als auch schon – insbesondere in osteuropäischen EU-Ländern und weltweit bei trans Menschen.
Simon: Ja, und Rückschritte sind irgendwie noch schlimmer, als wenn es irgendwo einfach nicht vorwärts gehen will. Da kann man sagen, okay, es braucht einfach noch mehr Überzeugungsarbeit. Aber wenn es sich gezielt gesteuert in die falsche Richtung entwickelt… das ist sehr beunruhigend.
Gibts Entwicklungen, die euch Hoffnung und Mut machen?
Stefan: Dass die «Ehe für alle» für die grosse Mehrheit der Schweizer*innen kein Aufregerthema mehr ist, finde ich sehr erfreulich.
Simon: Als ich im Gymi war, wurden dort auch Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare thematisiert, und die Diskussionen dazu waren damals heftig. Das hat sich enorm entspannt und ist jetzt auch bei der «Ehe für alle» fast kein Thema mehr – ausser bei den üblichen Verdächtigen in konservativen Kreisen. Das ist schon ein bemerkenswerter Wandel in so kurzer Zeit. Grossartig finde ich auch die Selbstverständlichkeit, mit der Lesben, Schwule und trans Menschen in Mainstream-Serien vorkommen und positiv dargestellt werden – es gibt ja fast keine Netflix-Serie mehr ohne. Und Netflix erreicht auch Menschen in Ländern, die LGBTI*-Themen deutlich weniger positiv gegenüberstehen. Das trägt dazu bei, Diversität zu normalisieren. Diesbezüglich hat sich in den letzten Jahren generell viel getan, wovon auch queere Menschen profitieren.
Stefan: In meiner Jugend in den 1980er-Jahren war es ein Ereignis, wenn im Fernsehen oder Kino mal ein Schwuler auftauchte. Generell scheint mir, dass die junge Generation heute weitgehend offen und positiv gegenüber LGBTI* eingestellt ist, für viele scheinen sie schlicht selbstverständlich und «normal» zu sein. Das macht Hoffnung für die Zukunft.