Bisher gabs queere Repräsentanz in Disney-Filmen immer nur leicht verschämt und für eine Sekunde hier und da. Im neuen Animationsfilm «Strange World» ist nun ein Junge ganz selbstverständlich in einen anderen Jungen verliebt. Und auch sonst scheint sich im Hollywoodkino endlich etwas zu bewegen.

Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass es in TV-Serien nur so wimmelt vor queeren Figuren – fast scheint es, dass es kaum noch eine ohne gibt. Auch im anspruchsvolleren Arthouse-Kino finden sich schon länger ganz selbstverständlich Geschichten mit und über LGBTQI*-Charaktere. Nur das grosse Hollywoodkino tut sich noch immer schwer.

Das hat vor allem kommerzielle Gründe. Mit grosser Kelle angerichtete Blockbuster kosten so viel Geld, dass sie darauf angewiesen sind, auf der ganzen Welt die Leute in Scharen ins Kino zu locken. Und wenn dann der Nahe Osten oder China einen Film boykottieren oder erst ab 18 freigeben, weil sich zwei Männer oder zwei Frauen in einer kurzen Sequenz zu nahe kommen, dann bedeutet das stark reduzierte Einnahmen, was man sich nicht leisten kann oder will.

Ein lesbischer Kuss in «Star Wars – The Rise of Skywalker».

Dennoch haben es ein paar Blockbuster in den letzten Jahren gewagt. In «Star Wars – The Rise of Skywalker» (2019) gibt es am Schluss ganz kurz eine Szene, in der sich bei der Siegesfeier zwei Frauen küssen. Zwinkert man da gerade mit den Augen, verpasst man es. In «Beauty and the Beast» (der Realverfilmung von 2017) tanzt der von Josh Gad generell recht queer gespielte Lefou beim grossen Schlussball mit einem Mann. Zwinkert man da gerade mit den Augen, verpasst man es. In «James Bond – No Time to Die» (2021) gibt es eine kurze Szene, in der 007 unerwartet bei Q zu Hause auftaucht. Dieser ist wenig begeistert, weil er gerade für ein Date kocht. Und dann sagt der vom schwulen Ben Whishaw gespielte Q also: «Er wird in 20 Minuten hier sein, ich kann mich jetzt nicht…». Hört man gerade nicht so genau hin, verpasst man es.

Solche Beispiele gibt es noch einige mehr: Es ist der Versuch, queere Repräsentanz unterzubringen, aber so, dass es ausserhalb des queeren Publikums möglichst niemand merkt. Die staatlichen Zensoren der oben erwähnten Regionen kriegen es natürlich trotzdem mit und machen jeweils zuverlässig Theater. Und dennoch ist Hollywood in den letzten Jahren mutiger geworden – oder scheint auf die Einnahmen jener Länder weniger angewiesen zu sein als auch schon.

Einst ein Paar: Albus Dumbledore (Jude Law) und Gellert Grindelwald (Mads Mikkelsen) in «Fantastic Beasts: The Secrets of Dumbledore».

Im Marvel-Superheldenepos «Eternals» (2021) lebt einer der Haupthelden mit einem Mann zusammen; das Paar hat sogar einen gemeinsamen Sohn. Und man muss schon ziemlich intensiv zwinkern oder weghören, um das zu verpassen. Noch weiter geht «Fantastic Beasts: The Secrets of Dumbledore» (2022), ein Spinoff der extrem erfolgreichen «Harry Potter»-Filme. Im Zentrum stehen die beiden Zauberer Albus Dumbledore und Gellert Grindelwald, die in jungen Jahren ein Paar waren. Zum Zeitpunkt der Filmhandlung sind sie das zwar nicht mehr, aber es sind die Folgen der zerbrochenen Liebesbeziehung, welche die Geschichte vorantreiben; sie ist denn den Film hindurch auch immer wieder Thema.

Und nun also «Strange World», der grosse jährliche Disney-Animationsfilm, der Ende November 2022 in die Kinos kam. Im Zentrum steht eine Abenteurerfamilie: Grossvater, Vater, Mutter und Teenager-Sohn. Letzterer ist schwer verliebt in seinen besten Schulfreund, und das wird nicht nur in den ersten 20 Minuten des Films unmissverständlich gezeigt, es stösst bei seiner Familie auch auf ganz selbstverständliche Akzeptanz. Die Liebesgeschichte steht zwar nicht im Zentrum der Handlung, wird jedoch immer wieder mal thematisiert und bekommt am Schluss auch ihr Happy End.

Zwei verliebte Jungs in Disneys «Strange World».

Um zu verstehen, was für ein seismisches Ereignis das ist, muss man sich der Bedeutung von Disney im Unterhaltungskosmos bewusst sein. Das legendäre US-Animationsstudio steht seit jeher für vorbildliche traditionelle Familienwerte, für massentaugliche Unterhaltung, die vom Kleinkind bis zu den Grosseltern allen Spass macht und niemanden stört. Diese Werte wurden im Laufe der Jahrzehnte auch immer subtil an den Zeitgeist angepasst – und wir werden hier wohl gerade Zeug*innen der neusten Adaption. Die Botschaft ist eindeutig: Zwei ineinander verliebte Jungs, das könnte gar nicht normaler sein.

Man kann die heutigen Kinder und Jugendlichen nur beneiden, die mit solchen Filmen aufwachsen dürfen. Die Queeren unter ihnen dürften sich wahrgenommen und gestärkt fühlen, die Heteros sich (mit der Zeit) weniger schwer tun mit der Akzeptanz queerer Menschen in ihrem Umfeld. Und jeder Hollywoodfilm, der solche Figuren einbaut, macht es anderen leichter, dies ebenfalls zu tun.

Hinzu kommt, dass Disney längst nicht mehr nur Animationsfilme herstellt, sondern zu einem der mächtigsten Produktionshäuser Hollywoods aufgestiegen ist: Zu Disney gehören mittlerweile auch Lucasfilm (also «Star Wars»), Marvel, Pixar und 20th Century Fox sowie diverse TV-Sender und ein Streamingdienst. Es wird vielleicht noch etwas dauern, bis es auf der Kinoleinwand genauso wimmelt vor queeren Figuren wie auf dem Fernsehschirm, aber der richtige Weg scheint zumindest eingeschlagen.