Schon vor der Machtübernahme der Taliban war die Lage von queeren Menschen in Afghanistan schwierig. Inzwischen ist es nur noch schlimmer geworden. Die Organisation Rainbow Road versucht zu helfen.  

 

Afghanistan ist ein islamischer Binnenstaat an der Schnittstelle von Zentralasien, Vorderasien und Südasien und gehört zu den 69 Ländern, in denen Homosexualität strafrechtlich verfolgt wird. Homosexuelle Handlungen können sogar mit dem Tode bestraft werden. 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslim*innen, der Islam ist die offizielle Staatsreligion. Afghanistans Gesetze beruhen auf der Scharia, die die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen des Islams beschreibt. Homosexualität gilt in der Scharia als grosses Tabu – und wird oft mit Prostitution und Pädophilie in Verbindung gebracht.   

Bereits vor der Übernahme der Macht durch die Taliban im Sommer 2021 war Afghanistan ein gefährliches Pflaster für queere Menschen. Sie wurden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität auf verbale und sexuelle Art missbraucht, von Schulen ausgeschlossen, von der Familien verstossen und erfuhren körperliche Gewalt.  

Der mittlerweile in den USA lebende Menschenrechtsaktivist Nemat Sadat startete 2012 eine LGBTI*-Bewegung in Afghanistan und versuchte so, die Tabus von Homosexualität und Geschlechtsidentität zu brechen. Er möchte ein Vorbild für junge queere Menschen in Afghanistan sein. In einem Interview mit der «taz» berichtet er, wie queere Menschen unter der Machtübernahme der Taliban leiden: «Wer ein queeres Leben führt, kann sich seines Lebens nicht mehr sicher sein, da gewaltbereite talibanische Milizen jede Minute vor der Tür stehen können.» 

Gesteinigt oder unter Mauer begraben  

Die bereits schlechte Situation von queeren Menschen hat sich mit der Machtübernahme der Taliban dramatisch verschlimmert. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters sagte ein Taliban-Sprecher letzten Herbst: «Für Homosexuelle gibt es nur zwei Formen der Strafe: Entweder die Steinigung, oder er muss sich hinter eine Mauer stellen, deren Steine auf ihn fallen.» 

Bisher wurden mehr als 60 Fälle von gezielter Gewalt gegen LGBTI*-Menschen gemeldet. Viele sind laut einem Bericht von Human Rights Watch in Nachbarländer geflüchtet, wo sie aber weiterhin in Gefahr sind – oder ihnen die Rückschaffung droht. Die Hilfsorganisation Rainbow Railroad arbeitet seit der Machtübernahme mit regionalen Gruppen zusammen, um queere Menschen zu schützen und in sichere Länder zu evakuieren. Kürzlich sind 29 von ihnen in Grossbritannien angekommen – dies soll allerdings nur der Anfang sein. Laut Rainbow Railroad sind über 700 Anfragen eingegangen, und es wurden über 200 Menschen identifiziert, die auf sofortige Evakuierung angewiesen sind. Human Rights Watch fordert die Vereinten Nationen auf, ihre diplomatischen Kanäle zu nutzen, um die Taliban dazu zu bringen, ihre Gesetze im Umgang mit LGBTI* anzupassen und deren Sicherheit und Gleichberechtigung zu gewährleisten. 

Hintergrund Taliban

Die Taliban sind eine 1994 gegründete islamistische Terrorgruppe, die 1996 bis 2001 grosse Teile Afghanistans beherrschte. Nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, die durch Taliban-Verbündete ausgeführt wurden, marschierten die USA in Afghanistan ein. Die Operation «Enduring Freedom», an der etwa 70 Nationen beteiligt waren, hatte das Ziel, Terrorismus schon vor der Entstehung auszuschalten. Die Taliban verloren die Macht, seither wurden hunderte Schulen und Moscheen aufgebaut, und die Gewalt durch die Taliban sank drastisch. Doch der Konflikt schwelte weiter, und als die USA und ihre Allierten sich im August 2021 aus Afghanistan zurückzogen, geriet das Land umgehend wieder unter die Kontrolle der Taliban.   

Pride in muslimischen Ländern  

Nicht in allen muslimischen Ländern spielt die Scharia eine Rolle im Rechtssystem. Dementsprechend werden homosexuelle Handlungen auch nicht überall strafrechtlich verfolgt. In einigen Ländern gibt es sogar grössere LGBTI*-Communities und Pride-Festivals. Zum Beispiel in Istanbul in der Türkei, in Sarajevo in Bosnien-Herzegowina, in Beirut im Libanon und in Tirana in Albanien. An eine Pride in Afghanistan ist noch lange nicht zu denken. 2011 interviewten afghanische Reporter Männer mit Regenbogenfahnen auf ihren Autos. Es stellte sich heraus, dass sie keine Ahnung von deren Bedeutung hatten. Die Autos kamen aus dem Western, und die Männer hielten die Regenbogenfahnen und LGBTI*-Sticker für eine westliche Modeerscheinung.  

 

(lk)