Türkei: Bevorstehende Zwangsräumung in Istanbul – Trans*, Kurden und Romafamilien gefährdet

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Strasse im zentralen Tarlabaşı von Istanbul – bis heute das Zuhause marginalisierter Gruppen von Roma- und vertriebenen Kurdenfamilien, und ganz besonders die Heimat vieler Transgender-Frauen und SexarbeiterInnen (© AI).

Zahlreichen Menschen in Tarlabaşı, einem zentralen Stadtteil Istanbuls, steht eine rechtswidrige Zwangsräumung bevor. Die Stadtgemeinde Beyoğlu plant die Zwangsräumung im Rahmen eines städtischen Erneuerungsprojektes. Einige Familien in diesem Stadtteil wurden schon einmal vertrieben.

Auch Transgender-Frauen ohne Hauseigentum werden weder Unterkünfte noch Entschädigung angeboten.
Vgl. Im Bericht S.20f Housing – S.21f Tarlabaşı Urban Regeneration Project (Englisch).

Türkei: Stopp Diskriminierung – Neues Parlament muss handeln – umfassender Report zu LGBT: weder eine Krankheit noch ein Verbrechen (Juni 2011) Hintergrund und

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Bevorstehende Zwangsräumung in Istanbul Trans*, Kurden und Romafamilien gefährdet (UA-216/2011, Index: EUR 44/007/2011, 15. Juli 2011)

Zahlreichen Menschen – Familien, aber vor allem auch Trans*, Sexarbeiterinnen – in Tarlabaşı, einem zentralen Stadtteil Istanbuls, steht eine rechtswidrige Zwangsräumung bevor. Die Stadtgemeinde Beyoğlu plant die Zwangsräumung im Rahmen eines städtischen Erneuerungsprojektes. Einige Familien in diesem Stadtteil wurden schon einmal vertrieben.

Einige BewohnerInnen wurden schon zwangsgeräumt. (© Jonathan Lewis).

Aus den Räumungsbefehle der Stadtgemeinde Beyoğlu, in die Amnesty International Einsicht hatte, geht hervor, dass die rechtswidrigen Zwangsräumungen mit der Unterstützung von BeamtInnen mit Polizeibefugnissen und AnwältInnen erfolgen sollen. Die Bescheide gaben keine Auskünfte über Zeitpläne und Möglichkeiten zur rechtlichen und administrativen Anfechtung der Zwangsräumungen. Dutzende Familien in dieser Gegend sind betroffen. Einige berichten von Einschüchterungsversuchen und Drohungen seitens der Behörden. Viele BewohnerInnen schildern, dass sie vor etwa sechs Monaten Räumungsdokumente unterzeichnen mussten, ohne sie lesen zu dürfen. Ihnen wurde gedroht, dass sie im Falle einer Unterschriftsverweigerung sofort von der Polizei vertrieben würden. Es gab kein angemessenes Konsultationsverfahren mit den Betroffenen, ihnen wurden weder Alternativen zur Zwangsräumung noch entsprechende alternative Unterkünfte angeboten.

Amnesty International hat mit mehreren BewohnerInnen gesprochen, unter anderem mit Besra, einer alleinerziehenden Mutter mit einem Kind, deren Wohnung am 24. Juni zwangsgeräumt wurde, während sie ihre Mutter im Krankenhaus besuchte. NachbarInnen riefen sie an, um ihr mitzuteilen, dass BeamtInnen der Stadtverwaltung eingetroffen seien, um sie zur Räumung zu zwingen. Amnesty International berichtete sie, dass sie ihre Tür aufgebrochen vorfand, als sie heimkehrte. Sie flehte die BeamtInnen an, sie nicht aus ihrer Wohnung zu vertreiben, aber sie erwiderten, dass sie noch am selben Tag gehen müsse. Ihre Möbel und andere Habseligkeiten wurden auf die Strasse geworfen, sodass sie irreparable Schäden davontrugen. Ein weiterer Bewohner, ein 60-jähriger Arbeitsloser mit einem Lungenleiden, teilte Amnesty International mit, dass er gezwungen wurde, einen Räumungsbefehl zu unterschreiben, ohne ihn gelesen zu haben. Die Polizei drohte ihm am 12. Juli mit einer Räumung, aber als NachbarInnen einschritten, gaben sie ihm bis zum 18. Juli Zeit, um die Wohnung zu verlassen.

Laut Völkerrecht sollen Zwangsräumungen erst als letzte Möglichkeit angewandt werden, wenn alle Alternativen ausgeschöpft sind und es eine echte Konsultation mit den Betroffenen gegeben hat. Die Behörden sind verpflichtet, ausreichende Fristen, Rechtsmittel, angemessene Alternativunterkünfte sowie Entschädigungen zu gewährleisten. Sie müssen sicherstellen, dass infolge der Räumung niemand obdachlos oder anderweitig in seinen Menschenrechten verletzt wird. Die Behörden von Beyoğlu kommen diesen Verpflichtungen nicht nach.

Quelle: Urgent Action Turkey – forced eviction (PDF, Englisch)

Mehr: Turkey urged to halt heavy-handed evictions in Istanbul ( 18. Juli, 2011, Englisch)

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Hintergrundsinformationen

Unter einem staatlichen Programm sollen viele historische Gebäude in Beyoğlu erneuert und einige abgerissen werden, um Platz für hochwertige Wohnungen zu schaffen. Das Projekt hat zur Folge, dass viele derzeit in dem Gebiet lebende Menschen vor der Zwangsräumung stehen, vor allem Transgender-Frauen, die seit Langem in der Gegend leben, aber auch andere gefährdete Gruppen wie Roma und Kurden, die in den Stadtteil zogen, nachdem sie in den 1990ern aus ihren Dörfern im Südosten der Türkei vertrieben worden waren.

Die grosse Mehrheit der MieterInnen sind von den niedrigen Wohnkosten in dem Stadtteil abhängig. Einige, mit denen Amnesty International sprach, hatten vor allem wegen ihres geringen Einkommens grosse Sorgen, dass sie eine ähnliche Unterkunft in der Gegend finden würden. Mit einigen BewohnernInnen, die HauseigentümerInnen sind, wurde ansatzweise gesprochen. Trotzdem fand kein verständlicher und angemessener Konsultationsprozess statt. Den Betroffenen wurden keine Alternativen zur Zwangsräumung angeboten, auch keine entsprechenden Alternativunterbringungen. Eine Transgender-Frau, mit der Amnesty International im Rahmen eines kürzlich veröffentlichten Berichts („Not an illness nor a crime“ lesbian, gay, bisexual and transgender people in Turkey demand equality) sprach, erklärte, dass den Menschen ohne Hauseigentum keine Alternativen zur Räumung oder zu Unterkünften angeboten wurden, dass sie weder konsultiert noch ihnen eine Entschädigung angeboten wurde.

Vgl: Türkei: Stopp Diskriminierung – Neues Parlament muss handeln – umfassender Report zu LGBT: weder eine Krankheit noch ein Verbrechen (Juni 2011)

Vgl. Im Bericht S.20f Housing – S.21f Tarlabaşı Urban Regeneration Project (Englisch).

Not an Illnes Nor a Crime – LGBT in Turkey Demand Equality (PDF, 700 kB, Englisch)

Im Juni 2011 sprachen VertreterInnen von Amnesty International mit Ahmet Misbah Demircan, dem Bürgermeister von Beyoğlu, und äusserten ihre Sorge über die Zwangsräumungen in Tarlabaşı, vor allem im Hinblick auf die Verpflichtungen der Stadt auf der Grundlage des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Die Türkei ist aufgrund verschiedener Menschenrechtsverträge wie dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte dazu verpflichtet, Zwangsräumungen zu vermeiden und ihnen vorzubeugen. Der UN- Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat betont, dass Zwangsräumungen als letzte Möglichkeit angewandt werden sollten, wenn alle Alternativen ausgeschöpft und angemessene verfahrensrechtliche Absicherungsmassnahmen getroffen sind. Diese schliessen ein: echte Konsultationen mit den Betroffenen, eine angemessene Kündigungsfrist, adäquate Alternativunterbringungen, Entschädigung für alle Verluste, Aufklärung über den Ablauf einer Zwangsräumung, Zugang zu Rechtsbeiständen und die Möglichkeit, rechtliche Verfahren einzuleiten. Regierungen müssen sicherstellen, dass infolge einer Räumung niemand obdachlos oder anderweitig in seinen Menschenrechten verletzt wird. Diese Bestimmungen gelten für alle Zwangsräumungen, unabhängig von der Art des Wohnbesitzes, das heisst auch für informelle Siedlungen.

Besra ist eine 38-jährige alleinerziehende Mutter, die in einem Wohngebäude in Istanbul als Putzfrau arbeitet. Sie lebt seit elf Jahren in Tarlabaşı, zuvor mit ihrem Mann, der 2007 bei einem Autounfall starb. Am 24. Juni 2011 besuchte Besra gerade ihre Mutter im Krankenhaus, als sie einen Anruf von ihren NachbarInnen in Tarlabaşı bekam, die ihr mitteilten, dass BeamtInnen der Gemeindeverwaltung von Beyoğlu im Begriff sind, ihr Haus zu räumen. Sie eilte in ihre Wohnung zurück und fand dort Dutzende BeamtInnen, PolizistInnen und Möbelpacker vor, die ihre Tür eingetreten hatten. Sie erklärte gegenüber Amnesty International, dass die BeamtInnen zusammen mit den PolizistInnen und den Möbelpackern ihre Wohnung leerten und alles Hab und Gut achtlos auf die Strasse warfen. Sie berichtete, dass ihre Schlafzimmermöbel, für die sie noch vier Raten zahlen musste, hinausgeworfen und beschädigt wurden. Auch ihre Kleidung und die ihres Kindes wurde auf die Strasse geworfen. Später fand sie heraus, dass ihre Habseligkeiten zu einer Stadtbezirkshalle gebracht worden waren. Besra erzählte, dass sie auf das Versprechen hin, dass sie ein andere Unterkunft bekommt und nicht schikaniert wird, ein Dokument unterschrieb, dass sie nicht lesen durfte. Ihr wurde eine Wohnung in Kayabaşı am Stadtrand Istanbuls angeboten, die sie zunächst annahm. Als Besra ihre Bedenken darüber äusserte, ihren Lebensunterhalt so weit von der Stadt entfernt zu verdienen, sagte ihr ein Beamter, sie solle heiraten. Seit der Zwangsräumung, erzählte Besra, lebt sie mit anderen Familienmitgliedern in einer feuchten Einraumwohnung im Keller.

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Empfohlene Aktionen

Schreibt bitte Fax, Luftpost oder Emails mit folgenden Forderungen (jedoch nicht später als bis zum 31. August 2011):

  • Ich fordere Sie auf, alle Zwangsräumungen einzustellen und nicht fortzufahren, bis völkerrechtliche Standards eingehalten werden..
  • Sorgen Sie dafür, dass ernsthafte Konsultationen der von der Zwangsräumung betroffenen Personen stattfinden.
  • Stellen Sie sicher, dass Zwangräumungen nicht ohne ausreichende Frist, Rechtsmittel, angemessene Alternativunterkünfte und Entschädigungen für Verluste stattfinden.

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Musterbrief und Adressen

Forced evictions in Tarlabaşı

Dear Mr Demircan,

I am deeply concerned about the situation of the dozens of families who are facing imminent forced eviction in the Istanbul district of Tarlabaşı. I understand that some of the residents have made serious allegations of being threatened and intimidated by the authorities, that there has been no adequate consultation process with the people affected, and there has been no plan to provide suitable alternative housing for those evicted.

May I point out that, under international law, evictions may only be carried out as a last resort. The authorities responsible have a duty to provide adequate notice, legal remedies, adequate alternative housing and compensation. In addition, they must ensure that no one is made homeless as a consequence of eviction. It would appear that the municipal authorities in Beyoğlu are not fulfilling these obligations.

Therefore, I am writing to you urgently to ask you to

  • order the immediate suspension of all forced evictions and to make sure that evictions do not proceed before safeguards are put in place that are consistent with international human rights standards;
  • instigate genuine consultation with all the residents who face eviction in Tarlabaşı;
  • ensure that no evictions are carried out without adequate notice being given and suitable remedies provided, including adequate alternative housing and compensation for all losses incurred by those evicted.

I trust that you understand my concern in this case and thank you for taking immediate steps to protect the human rights of those threatened with eviction in the district of Tarlabaşı.

Yours very sincerely,


Adressen:

Bürgermeister von Beyoğlu,
Ahmet Misbah Demircan,
Beyoğlu Belediyesi,
Şişhane Meydanı,
Beyoğlu,
Istanbul, TÜRKEI.
Fax: (0090) 212 252 1100
E-Mail: baskan@beyoglu.bel.tr
(korrekte Anrede: Dear Mr Demircan / Sehr geehrter Herr Demircan)

Kopien an:

MENSCHENRECHTSKOMMISSION DES PARLAMENTS,
Ayhan Sefer Üstün,
Türkiye Büyük Millet Meclisi,
İnsan Haklarını İnceleme Komisyonu,
Bakanlıklar,
06543 Ankara, TÜRKEI.
Fax: (0090) 312 420 53 94
(korrekte Anrede: Dear Mr Üstün/ Sehr geehrter Herr Üstün)

Ambassade de la République de Turquie,
Lombachweg 33,
Case postale 34,
3000 Berne 15.
Fax: 031 352 88 19
E-mail: botschaft.bern@mfa.gov.tr