RUSSLAND HAT SICH FÜR DIE FUSSBALL-WM DER MÄNNER INS BESTE LICHT GERÜCKT. DOCH DIE MENSCHENRECHTSLAGE SPITZTE SICH GERADE RUND UMS FUSSBALLFEST WEITER ZU. AMNESTY SCHWEIZ LUD MIT MEHREREN PODIEN ZU EINEM BLICK HINTER DIE KULISSEN. MIT DABEI WAR SVETLANA ZAKHAROVA VOM RUSSISCHEN LGBT-NETWORK. SIE IST EINE DER PROMINENTESTEN STIMMEN GEGEN DIE WACHSENDE HOMOPHOBIE IM LAND.

Svetlana stand schon im Gymnasium offen dazu, lesbisch zu sein – und sie wurde deswegen in der Schule nicht gemobbt oder von der eigenen Familie weniger gemocht. Heute, so findet sie, wäre ihre Offenheit als Teenager nicht mehr denkbar, sie müsste Sanktionen oder Schikanen befürchten.

Svetlana ist eine der mutigsten Stimmen gegen die wachsende Homophobie in Russland. Seit 2012 ist es zunehmend schwieriger geworden, sich zu outen. In einem autoritären Regime zu leben, heisst, permanent Repressionen fürchten zu müssen. Sie weiss um die geschickte Macht der Propaganda, die darauf baut, das Aussen als etwas Bedrohliches darzustellen und gleichzeitig die inneren Grenzen enger und ausgrenzender zu definieren. Ein zentrales Grundrauschen der Gehirnwäsche ist die offene Diskriminierung von allem Nicht-normativen, eine Intoleranz gegenüber aller Ambiguität. Basierend auf Vorurteilen gegenüber Minderheiten wie Homosexuellen, Obdachlosen, Sex-Arbeiter_innen oder HIV-Infizierten werden diese Gruppen in der russischen Gesellschaft systematisch diskriminiert

Mit den Gesetzen gegen «homosexuelle Propaganda» wurden ab 2012 jegliche positiven Äusserungen über Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen unter Strafe stellt. Das Argument des Kindsschutzes ist dabei das Feigenblatt eines Staates, der keine gleichgeschlechtlichen Partnerschaften anerkennt und auch die Familiengründung für gleichgeschlechtliche Paare verbietet. Die gesellschaftliche Akzeptanz für die Einschränkung persönlicher Freiheiten nimmt gleichzeitig erschreckend zu. Konkret bedeutet dies zum Beispiel, dass Kinder fremdplatziert werden, wenn ein Elternteil trans ist. In einem solchen Klima von Repression als Aktivistin zu leben, braucht Mut.

Seit der Fussball-WM der Männer 1978 in Argentinien, die unter einer Militärdiktatur stattfand, war kein Austragungsort mehr derart umstritten wie Russland. Während die Kameras auf die Spiele gerichtet waren, spitzte sich die Menschenrechtssituation im Land weiter zu. In Tschetschenien werden Homosexuelle gejagt, inhaftiert, gefoltert und ermordet. Der russische LGBT-Sportverband kritisierte die Fifa vor dem Anpfiff des Eröffnungsspiels, dass sie in Tschetschenien das WM-Quartier für die ägyptische Mannschaft zuliess, obwohl gerade in dieser Region Homosexuelle ermordet und gefoltert wurden.

«Ich schaue oft zurück», sagt Swetlana. «Vor 2012 war unser Land noch nicht dermassen geprägt von Stress. Doch inzwischen bin ich es gewohnt, als queere Person permanent eine Zielscheibe in der Öffentlichkeit darzustellen.» Dennoch muss sie nicht fürchten, ihren Job zu verlieren, weil sie lesbisch ist: Ihre öffentliche Sichtbarkeit und Bekanntheit gibt ihr eine Art Schutz, denn würde ihr etwas zustossen, würde die Community reagieren. Ihre Position sei quasi ein Privileg – die Schlussfolgerung daraus: «Erhöhe deine Sichtbarkeit oder akzeptiere die Zustände.» Gerade weil diese Haltung in der aktuellen Situation keine Selbstverständlichkeit ist, macht sie vielen Menschen trotz allem Hoffnung und Mut.

SVETLANA, WAS HAT DICH DAZU BEWOGEN, BEIM RUSSISCHEN LGBT- NETWORK MITZUMACHEN?

Ich war immer offen für queere Ideen. Begonnen habe ich als Jugendliche als Freiwillige und wurde im Laufe der Zeit aktiver und involvierter. Auch wenn das ein wenig pathetisch klingt: Ich wollte schon immer eine Aktivistin werden, und was ich heute tun kann, ist für mich immer noch ein Privileg.

WAS MACHST DU GENAU?

Ich bin Kommunikationsverantwortliche und Vorstandsmitglied. Eigentlich ist es einen Büro-Job, aber wir helfen Menschen, indem wir sie mit der nötigen Hilfe vernetzen, zum Beispiel mit juristischem oder psychologischem Support, oder indem wir ihnen einfach Hoffnung vermitteln. Denn alleine erreichst du nichts.

WELCHES WAR DEIN BISHER INTENSIVSTES ERLEBNIS?

Ich war einmal mit vier anderen Aktivist_innen unterwegs, als wir plötzlich mit Eiern und Steinen beworfen wurden. Und die Menschen um uns herum haben trotz des Angriffs erst nicht reagiert – bis schliesslich eine einzelne Person die Angreifer anschrie: «Go to hell!». Das wirkte. Doch für uns war dieser Angriff aus dem Nichts ein grosser Schock, und das vor so vielen Menschen, die lange einfach nur zuschauten. Diese Leute reden nicht, sie attackieren und leben Aggressionen aus.

IN RUSSLAND FAND JA GERADE DIE FUSSBALL-WM DER MÄNNER STATT. HAST DU DIR DIE SPIELE ANGESEHEN?

Ich schaue grundsätzlich kein Fussball, aber in diesem Fall ist es auch eine politische Entscheidung: Die gesellschaftlichen Probleme in Russland sind einfach zu gross.

HÄTTE DER WESTEN DIE WM BOYKOTTIEREN SOLLEN?

Ich denke, dass ein Boykott nicht zielführend gewesen wäre, die Probleme in Russland sind zu massiv. Einfach die Spiele zu ignorieren, kann als Widerstand alleine nicht ausreichen, denn das hat auf die Situation schlicht keinen Einfluss. Auch in der Vergangenheit haben Boykotte grosser Sportanlässe kaum etwas bewirkt.

WAS HÄTTE MEHR WIRKUNG?

Mutig bleiben, Fragen stellen und auch über die Menschenrechte sprechen. In der LGBTIQ*- Community haben wir beschlossen, die WM als Chance zu sehen, um auf unsere Themen aufmerksam zu machen. Seitens des LGBT-Network haben wir entschieden, rund um die WM nicht zu viel zu investieren, es ist auch so bekannt, dass Russland eines der homophobsten Länder ist.

GIBT ES DENNOCH GRUND ZUR HOFFNUNG?

Auf lange Sicht sind Veränderungen unaufhaltbar. Kurz- und mittelfristig jedoch sehe ich leider keinen Grund zur Hoffnung. Ich fürchte eher, die Lage wird sich sogar noch zuspitzen. Aber junge Menschen sind bereit zu protestieren, die Zustände nicht hinzunehmen, Sachen zu verändern. Ich bin positiv gestimmt und denke, dass die nächste Generation es schaffen wird, die Situation wieder zum Guten zu wenden. Es ist der Post-Sowjet-Effekt, der Menschen dazu bringt, Zustände zu akzeptieren, die sie eigentlich nicht gutheissen. Die Jungen übernehmen wieder mehr Verantwortung für die Gesellschaft, und deshalb gibt es für mich definitiv Grund zur Hoffnung.