Ein tunesischer Student wurde wegen homosexueller Handlungen zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Er wurde gezwungen, eine Analuntersuchung über sich ergehen zu lassen, um zu „beweisen“, dass er Analsex hatte. Gegen das Urteil hat der Student Berufung eingelegt und erwartet nun den erneuten richterlichen Beschluss.
Ein 22-jähriger Student, bekannt unter dem Pseudonym Marwan, wurde am 22. September dieses Jahres in erster Instanz durch das Gericht in Sousse, Tunesien, zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Das Urteil wurde aufgrund von Artikel 230 des Tunesischen Strafgesetzbuches gefällt, der gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe stellt. Die Strafverfolgungsbehörden in Hammam-Sousse luden Marwan am 06. September für eine Befragung vor, nachdem Polizisten seine Nummer auf dem Telefon eines Mannes gefunden hatten, der ermordet worden war. Während des Verhörs wurde Marwan über seine Beziehung zum ermordeten Mann befragt. Laut seinem Anwalt hat Marwan gestanden, homosexuelle Handlungen mit dem Mann ausgeübt zu haben. Kurz danach hätten die Polizisten ihn geschlagen und gedroht, ihn auszuziehen und zu vergewaltigen sowie ihn des Mordes anzuklagen, wenn er nicht gestehe.
Auf Anordnung des Gerichts wurde Marwan am 11. September einer Analuntersuchung unterzogen, die von der forensischen Abteilung des Farhat Hached Spitals in Sousse durchgeführt wurde, um den „Beweis“ von Analsex zu erbringen. Laut seinem Anwalt wurde Marwan durch die Anwesenheit der Polizei ausserhalb des Untersuchungsraums stark eingeschüchtert. Er war sich überdies nicht bewusst, dass er dieser Untersuchung, die er als erniedrigend empfand, hätte widersprechen können. Amnesty International ist der Überzeugung, dass es keine wissenschaftliche Grundlage für derartige Analuntersuchungen gibt und sie daher eine Form von Folter oder Misshandlung darstellen, wenn sie gegen den Willen der Person durchgeführt werden.
Amnesty International ist überzeugt, dass die Inhaftierung von Personen aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität oder aufgrund jeglicher privater einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen unter Erwachsenen eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellt. Alle Personen, die nur aufgrund dieser Punkte gefangen genommen werden, sind politische Häftlinge und müssen sofort und bedingungslos aus der Haft entlassen werden.
Zusätzliche Informationen
Marwans Fall hat in der tunesischen Zivilgesellschaft einen beispiellosen Widerstand gegen die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen und gegen anale Zwangsuntersuchungen ausgelöst. Eine wegweisende Aussage ist diejenige des tunesischen Justizministers Mohamed Salah Ben Aissa vom 28. September: Dieser anerkannte, dass Artikel 230 des Strafgesetzbuches die persönliche Freiheit und die Wahlfreiheit, wozu auch die eigene Sexualität gehöre, ebenso wie das Recht auf Privatleben verletze. Rechte, die durch die neue tunesische Verfassung vom Januar 2014 eigentlich geschützt wären. Der Justizminister sagte auch, dass Artikel 230 aufgehoben werden solle und ermutigte die Zivilgesellschaft, dies zu fordern.
Ebenso wie die Kriminalisierung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen die tunesische Verfassung verletzt, ist sie diskriminierend und widerspricht zahlreichen internationalen Menschenrechtsabkommen, zu deren Einhaltung sich Tunesien verpflichtet hat. Der UN-Menschenrechtsausschuss (das internationale Expert_innengremium der Vereinten Nationen, das die Einhaltung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte auswertet und überwacht) bestätigt, dass Staaten – auch Tunesien – eine Verpflichtung haben, Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität (Artikel 2 und 26) zu verhindern. Weiter müssen Staaten die Meinungsäusserungsfreiheit schützen (Artikel 19), willkürliche Eingriffe in das Privatleben verhindern (Artikel 17) und die Gewissensfreiheit sicherstellen (Artikel 18).
Amnesty International kann belegen, dass die Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen, wie sie in Artikel 230 des tunesischen Strafgesetzbuchs festgehalten ist, Gewalt gegen lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und inter* Menschen (LGBTI) in Tunesien fördert. Die Kriminalisierung schafft ein Umfeld und Klima, in dem homophobe und transphobe Verbrechen eher akzeptiert werden und in dem Gewaltopfer aus Angst vor einer eigenen Strafverfolgung Hassverbrechen nicht zur Anzeige bringen.
Beteiligen Sie sich an unserer Online-Petition:
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Oder schreiben Sie einen Brief:
Bitte schreiben Sie umgehend einen Brief auf Arabisch, Französisch, Englisch, Deutsch oder in Ihrer eigenen Sprache, in dem Sie:
- die tunesischen Behörden dringend bitten, Marwans Verurteilung aufzuheben,
- sie auffordern, Marwan sofort und bedingungslos aus der Haft zu entlassen,
- sie auffordern, Artikel 230 des tunesischen Strafgesetzbuches aufzuheben, der einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen unter Strafe stellt.
Schreiben Sie bitte an:
Minister of Justice
Mohamed Salah Ben Aissa
31, boulevard Bab Bnet
1006 Tunis
Tunisia
Fax: +216 71 56 18 04
Email: mju@ministeres.tn
Anrede: Your Excellency
President
Béji Caïd Essebsi
Presidential Palace
Carthage, Tunis
Tunisia
Fax: +21671744721
Email: contact@carthage.tn
Anrede: Your Excellency
Kopien an:
Speaker of Parliament
President Mohamed Naceur
Assembly of the Representatives of the People
Bardo 2000
Tunis
Tunisia
Fax: +216 71 514 608
Email: anc@anc.tn
Ambassade de Tunisie
Kirchenfeldstrasse 63
3005 Berne
Fax: 031 351 04 45
E-mail: at.berne@bluewin.ch
Bitte senden Sie die Briefe vor dem 16. November 2016.