Menschen, die sich zu Frauen und Männern gleichermassen hingezogen fühlen, haben es nicht leicht – weder im Beziehungsleben noch in der queeren Community. Marc Schmid und Philipp Abegg engagieren sich beide bei Queeramnesty, und noch heute wissen nicht alle in ihrem Umfeld, dass sie bi sind.

Marc Schmid war 51, als er zum ersten Mal jemandem sagte, dass er bi ist: seinem Psychotherapeuten. «Die Reaktion war positiv und unterstützend, so dass ich mich ein paar Monate später auch bereit fühlte, es meiner Frau und kurz darauf meinen drei erwachsenen Kindern zu erzählen.» Der Nachwuchs nahm die Nachricht ziemlich gelassen auf, seine Frau weniger. «Es folgte ein äusserst turbulentes halbes Jahr, mit viel emotionalem Auf-und-Ab für uns beide.» Doch die Beziehung hielt und besteht noch heute.

«Allerdings lehnt sie eine offene Beziehung ab, was mir enge Grenzen setzt, meine andere Seite auszuleben», sagt Marc, der schon als Teenager realisierte, dass er sich auch zu Männern hingezogen fühlt. «Ich war allerdings lange einfach nur verwirrt: Bin ich nun schwul oder hetero? Erst mit 30 realisierte ich, dass es auch andere gibt, die so fühlen wie ich, und dass es dafür ein Wort gibt», sagt der heute 54-jährige Physiker aus Bern, der bei den SBB arbeitet und seit kurzem Co-Gruppenkoordinator von Queeramnesty ist.

Harsche Reaktionen bei ersten Coming-outs

Auch Philipp Abegg war schon früh klar, dass er auf beide Geschlechter gleichermassen steht. «Aber auch ich hatte lange kein Wort dafür», sagt der heute 59-jährige Rechtsanwalt und Unternehmer. Wie Marc wohnt er in Bern, ist mit einer Frau verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Die beiden Männer lernten sich letztes Jahr in der Berner Bi-Gruppe kennen, die sich einmal pro Monat trifft. Staunend stellten sie fest, wie ähnlich ihre Geschichten sind; seither sind sie gut befreundet. Und Philipp kümmert sich bei Queeramnesty neu um die Finanzen.


Marc Schmid (links) und Philipp Abegg in der Berner Altstadt.

Seine Erfahrungen waren ein wenig anders als die von Marc. «Ich hatte schon früher sexuelle Beziehungen zu Männern, war mit 27 sogar mal richtig schwer verliebt in einen Studienkollegen.» Der jedoch wollte keine richtige Beziehung, und dann lernte Philipp seine heutige Frau kennen und lieben. Erst als die Kinder erwachsen wurden, wuchs sein Interesse, sich mit seiner «anderen Seite» zu beschäftigen. «Aber die wenigen Male, bei denen ich mich anderen anvertraute, waren ausnahmslos entmutigend.» Eine Arbeitskollegin riet ihm, zum Psychiater zu gehen. Ein schwules Paar fand, er könne sich doch nur nicht eingestehen, ebenfalls schwul zu sein.

Queere Community wenig hilfreich

«Hinzu kommt, dass es wenig Material gibt über Bisexualität, kaum Studien oder Literatur. Es ist nicht leicht, sich mit diesen Gefühlen auseinanderzusetzen.» Und die queere Community sei auch nicht sonderlich hilfreich dabei. «Wir sind zwar bei LGBTQI* schon lange miterwähnt, aber mitberücksichtigt sind wir bis heute nicht richtig», sagt Philipp, der schon seit 2019 in der Berner Bi-Gruppe aktiv ist.

«Ich hatte eigentlich nicht vor, es je meiner Frau und meinen Kindern zu sagen. Aber letztes Jahr gab es dann einige emotionale Turbulenzen, und so offenbarte ich mich ihnen schliesslich doch.» Die Reaktionen waren ähnlich wie bei Marcs Familie. Die Kinder nahmen es locker, seine Frau jedoch traf das Coming-out völlig unerwartet. «Es waren einige turbulente Monate, inzwischen hat sich die Lage wieder etwas beruhigt. Ich thematisiere es aber auch nur noch zurückhaltend.» Und auch Philipps Frau ist für eine offene Beziehung nicht zu haben.

«Es ist schwierig, Bisexualität tatsächlich und offen zu leben, weil wir als Gesellschaft so stark auf Paarbeziehungen ausgerichtet sind.»

«Diese Zerrissenheit ist typisch für Menschen, die sich zu beiden Geschlechtern hingezogen fühlen», sagt Marc. «Das macht es so schwierig, Bisexualität tatsächlich und offen zu leben. Es ist eine Zwickmühle, in der alle unweigerlich stecken, weil wir als Gesellschaft so stark auf Paarbeziehungen ausgerichtet sind.» Die meisten bestehenden Beziehungen gingen denn auch auseinander, wenn sich die eine Hälfte bei der anderen als bi oute.

Es bräuchte geradezu ein kleines Wunder, eine ideale Beziehungskonstellation zu gestalten, in der sich alle wohlfühlen und niemand das Gefühl habe, nicht zu genügen, erklärt Philipp. «Allerdings habe ich den Eindruck, dass die jüngere Generation heute offener für sowas sein könnte, dass eine gewisse sexuelle Fluidität akzeptierter und selbstverständlicher ist. Wie gut solche Beziehungen dann aber in der Praxis funktionieren, kann ich nicht einschätzen.»

Viel mehr Frauen als Männer in der Bi-Gruppe

Im Umfeld der Berner Bi-Gruppe beobachten die beiden, dass späte Coming-outs in ihrer Generation nicht ungewöhnlich sind. Generell sind dort mehr Frauen als Männer aktiv, etwa im Verhältnis 70:30. «Eigentlich müsste es viel mehr Leute geben, die bi sind, aber aktiv sind nur wenige», sagt Philipp. «Wohl auch, weil es oft negative oder skeptische Reaktion gibt. Und weil es das Leben eher komplizierter macht, wenn man offen damit umgeht.»

Dies bestätigt auch eine Studie des Bundesamts für Gesundheit von 2022, die aufzeigt, dass Bi-Menschen innerhalb des queeren Spektrums besonders mit Diskriminierung und gesundheitlichen Problemen konfrontiert sind. «Vermutlich vor allem mit psychischen», sagt Marc. «Wegen der Komplikationen, die unweigerlich mit der Bisexualität verbunden sind.»

«Wir sind zwar bei LGBTQI* schon lange miterwähnt, aber mitberücksichtigt sind wir bis heute nicht richtig.» 

Er vermutet zudem, dass sich die queere Community deshalb so schwertut, Bisexuelle ernst zu nehmen, weil viele sich schlicht nicht vorstellen können, wie es ist, gleichermassen auf Männer und Frauen zu stehen. «Ich derweil kann mir nicht vorstellen, wie man nicht bi sein kann.» Er betrachte sich inzwischen auch nicht mehr als x% schwul und y% hetero. «Ich bin 100% bi – und im übrigen offen für jede Konstellation, also auch trans Menschen oder Nonbinäre.»

Seit seinem Coming-out versucht der Berner der Bisexualität mehr Öffentlichkeit zu verschaffen. Zuerst engagierte er sich bei Pink Cross, nun auch noch bei Queeramnesty. «Und ständig höre ich, ich sei der erste Bisexuelle, der ihnen begegnet sei.» Immerhin fühlt er sich dort nun wohl und ernst genommen.

Bisherige Coming-outs nicht bereut

Das sei es auch, was Bi-Menschen sich von der queeren Community vor allem erhoffen, erklärt Philipp: anerkannt und ernst genommen zu werden. «Was wir fühlen, ist nicht einfach eine Phase, es ist so und wird immer so sein.» Schwieriger hingegen ist es, konkrete Anliegen an die Gesellschaft zu formulieren. Mehr Bi-Geschichten in Filmen, TV-Serien und Romanen, würden beide gut finden. «Aber für uns braucht es keine rechtlichen Anpassungen, und eine grundsätzlichere Offenheit für andere sexuelle Orientierungen und flexiblere Beziehungsformen besteht ja inzwischen. Die eigentliche Herausforderung für Bi-Menschen ist es, ein befriedigendes, glückliches Beziehungsleben zu führen, das alle Aspekte vereint.»

Durch das späte Coming-out fühle er sich ab und zu wie ein Teenager, sagt Marc und lacht. «Ich muss mich jetzt mit Dingen rumschlagen, die andere schon lange hinter sich gebracht haben. Aber es ist auch alles sehr spannend und intensiv.» Und noch gibt es einige in ihrem Umfeld, die nicht Bescheid wissen. Dennoch: Trotz einiger Komplikationen bereuen beide ihre bisherigen Coming-outs nicht. «Für uns ist es kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch», sagt Marc. «Und es fühlt sich gut an, damit nun endlich etwas offener umzugehen.»