MODERN, SAUBER, WOHLHABEND, MULTI- KULTURELL UND WELTOFFEN – SO ZEIGT SICH SINGAPUR DER WELT. UMSO ÜBERRASCHENDER IST FÜR VIELE DER MASSIVE NACHHOLBEDARF BEI LGBTI*-RECHTEN: EINE GLEICHSTELLUNG IST IN WEITER FERNE, SCHWULER SEX SOGAR STRAFBAR. IN IHREM ENGAGEMENT FÜR VERBESSERUNGEN SIND DIE AKTIVIST_INNEN TROTZDEM SEHR VORSICHTIG.

Bis zu zwei Jahre Gefängnis sieht der Artikel 377A des singapurischen Strafgesetzbuches für Anal- oder Oralverkehr zwischen Männern vor – unabhängig vom Alter der Handelnden und vom Ort der «Tat». Den Paragrafen hat der Stadtstaat vom British Empire geerbt, dessen Kronkolonie er bis 1963 war. Und dieses Erbe wird weiterhin hochgehalten, anders als in Indien, das eine gleichlautende Bestimmung im September 2018 aufgehoben hat. Nur eine Lockerung gab es: Seit 2007 sind die erwähnten Praktiken für Heteros und Lesben erlaubt, unter Männern aber weiterhin verboten. Und noch 2014 entschied der Oberste Gerichtshof des Landes, dass diese Ungleichheit nicht im Widerspruch zur Verfassung stehe, die eigentlich allen Menschen «ein Leben in persönlicher Freiheit sowie Gleichheit vor dem Gesetz» garantieren sollte. Über einen weiteren Antrag aus dem Jahr 2018, Artikel 377A als verfassungswidrig aufzuheben, hatte der Gerichtshof bei Redaktionsschluss noch nicht entschieden.

Nicht nur das schwulenfeindliche Strafrecht macht der queeren Community das Leben schwer, auch LGBTI*-Rechte sucht man in der asiatischen Metropole vergebens: Antidiskriminierungsgesetze, Eingetragene Partnerschaft, Ehe, (Stiefkind-)Adoption für homosexuelle Einzelpersonen oder Paare … alles Fehlanzeige. Einzig das Recht auf Änderung des amtlichen Geschlechts in bestimmten Fällenexistiert.

NUR NOCH WENIGE VERURTEILUNGEN

Und Artikel 377A ist keineswegs totes Recht, dessen Abschaffung nur vergessen wurde. Er wirkt, auch wenn Verurteilungen selten sind (zwischen 2007 und 2013 waren es 9, aktuellere Zahlen wurden nicht publiziert). Im Gespräch mit Queeramnesty schildert Kim (Name auf dessen Wunsch von der Redaktion geändert) von Pink Dot SG, dem Veranstalter des grössten LGBTI*-Events der Stadt, die Auswirkungen auf das tägliche Leben: «Wir leben in Unsicherheit. Einerseits existiert das Gesetz, und es ist immer noch anwendbar. Andererseits versichert uns die Regierung immer wieder, dass es nicht durchgesetzt werde.» Und noch einen weiteren negativen Effekt betont Kim: «Natürlich beeinflussen derartige Gesetze auch die Vorstellung der Gesellschaft darüber, was akzeptiert ist und was nicht.» Studien bestätigen, dass eine Mehrheit der Singapurer_ innen Homosexualität tatsächlich sehr kritisch sieht, allerdings mit rückläufigen Prozentsätzen: In einer Umfrage des singapurischen Institute of Policy Studies Ende 2018 sagten 20%, dass sie sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen gleichen Geschlechts «gar nicht» oder «meistens nicht» für falsch hielten. 2013 fanden dies erst 10%. Die Zustimmung zu einer Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partner_innen stieg im gleichen Zeitraum von 15 auf 27%.

Kim: «Die Akzeptanz verbessert sich langsam. Wir sehen vor allem bei jüngeren Mitgliedern der singapurischen Gesellschaft, dass sie sich immer öfter über ihre LGBTI*- Geschwister informieren. Trotzdem gibt es noch immer eine beachtliche Mehrheit von ignoranten und/oder konservativen Menschen, die unsere Community nicht verstehen oder nicht verstehen wollen.»

Pink Dot Singapur 2019: Tausende Teilnehmer forderten die Aufhebung des Artikel 377a, der schwulen Sex komplett verbietet.

KEIN RADIKALER KAMPF

Warum der Wandel so viel Zeit braucht, erklärt der Pink-Dot-Mitarbeiter so: «Singapur befindet sich in einer Übergangsphase. Die verschiedenen Teile unserer Gesellschaft sind noch auf der Suche nach ihrem jeweiligen Zugang und ihrer Haltung zu unserer Community.» Diese behutsame Formulierung spiegelt die vielfältige Bevölkerungsstruktur in Singapur wider: Zahlreiche ethnische und religiöse Gruppen leben hier auf engem Raum zusammen, Harmonie und sozialer Zusammenhalt werden grossgeschrieben. «Pink Dot SG ist sehr vorsichtig, wenn es um Konfrontationen geht», unterstreicht Kim gegenüber Queeramnesty den Eindruck, den auch die Website der Organisation macht. Der Ton ist immer verbindlich und teilweise schon fast staatstragend: «Wir sind eine Gruppe für alle, die daran glauben, dass die Freiheit zu lieben für alle gilt», ist da zu lesen, und Pink als namensgebende Farbe wird erklärt als Mix aus Rot und Weiss – den Nationalfarben Singapurs.

Es ist also weniger ein radikaler Kampf als ein freundliches Werben um Gleichberechtigung, dem sich die NGO verschrieben hat. Ein Werben, das seit 2009 mit dem alljährlichen Pink-Dot-SG-Event im Hong-Lim-Park seinen Höhepunkt findet – zuletzt am 29. Juni 2019. Tausende Teilnehmer_innen strömten in den Park, wo unter anderem Pink-Dot-Sprecher Clement Tan eine Rede hielt: «Als junge Singapurer_innen, die ihren Beitrag für unsere Nation leisten, fragen wir uns, ob dies wirklich der Ort ist, wo wir Wurzeln schlagen, unsere Karrieren aufbauen und Familien gründen wollen.» Auch in diesem Satz ist die Strategie von Pink Dot SG erkennbar: Das gesellschaftliche Ganze betonen, harte Angriffe vermeiden.

Zumindest nach aussen zurückhaltend ist auch Oogachaga, die nach eigenen Angaben etablierteste LGBTI*-Organisation in Singapur. Sie besteht bereits seit 20 Jahren und bietet unter anderem Beratung und Hilfe für LGBTI*-Menschen an. Auf eine Interviewanfrage von Queeramnesty reagierte die Organisation ablehnend. Aufgrund der Sprachbarriere sei es leider nicht möglich, den Artikel gegenzulesen und freizugeben.

GAY AREA WIRD IN RUHE GELASSEN

Trotz der rechtlichen Lage, die strenggenommen bereits den Versuch strafbar macht, schwulem Sex Vorschub zu leisten, gibt es in Singapur eine «Gay Area». Sie wird offiziell zwar in keiner Weise anerkannt, aber auch nicht aktiv bekämpft. «Die Behörden lassen die Lokale und Einrichtungen im Grossen und Ganzen in Ruhe», berichtet Kim. Dass die negative öffentliche Meinung in Taten umschlägt, ist ebenfalls nicht zu befürchten. Würde zum Beispiel ein Männerpaar händchenhaltend durch die Strassen spazieren, hätte es vielleicht verbale Attacken zu befürchten, physische Gewalt allerdings kaum, meint Kim: «Unsere strengen Gesetze schrecken die Leute normalerweise davon ab, gewalttätig zu werden.» In diesem einen Fall wäre also die Law-and-Order-Politik der 5,6-Millionen-Stadt ein Vorteil für angefeindete Minderheiten.

Mit diesem schwachen Trost geben sich die Aktivist_innen in Singapur selbstverständlich nicht zufrieden. «Wir werden weiterarbeiten, so lange wir können», sagt Kim. Den Begriff «kämpfen» verwendet er auch dieses Mal nicht.

Auf grössere Medien als Verbündete können die LGBTI*- Aktivist_innen bei dieser Arbeit jedenfalls nicht zählen. Ihnen verbietet die Singapore Media Development Authority die «Förderung oder Verherrlichung eines homosexuellen Lebensstils». Was das in der Praxis heisst, schildert Kim so: «In den Mainstream-Medien gibt es keine positive Darstellung von LGBTI*-Personen. Allerdings geniessen einige unabhängige Medien eine gewisse Freiheit, ihre Sicht auf diese Themen zu teilen.» Eines dieser Medien ist www.dearstraightpeople.com (auf Deutsch etwa: «Liebe Heteros»), wo Lebensgeschichten von Lesben und Schwulen erzählt werden.

«SO IST UNSERE GESELLSCHAFT EBEN»

Auch von Parteien kommt keine Hilfe: Weder die seit 1965 dominierende People’s Action Party (PAP) noch Oppositionspolitiker_innen setzen sich für LGBTI*-Rechte ein. Premierminister Lee Hsien Loong zerstreute erst Ende Juni wieder Hoffnungen auf eine Aufhebung von Artikel 377A. Danach gefragt, ob die Strafdrohung nicht auch das Anwerben dringend benötigter Arbeitskräfte für Technologieunternehmen behindere, antwortete der Regierungschef in einer Diskussion: «Wie auch immer Ihre sexuelle Orientierung sein mag – Sie sind willkommen, hier zu arbeiten. [Aber] Sie kennen unsere Regeln (…). So ist unsere Gesellschaft eben.» Im gleichen Atemzug versuchte Loong, das Pink-Dot-SG-Festival als Indiz für die Toleranz seines Landes zu vereinnahmen – ein Ansinnen, das die Organisation zurückwies und mit einer Einladung zu ihrem Fest beantwortete: «Kommen Sie, hören Sie zu und lernen Sie von der Community» hiess es in dem offenen Brief – einmal mehr freundlich im Ton, bestimmt in der Sache. Der Premierminister erschien nicht, wohl aber sein Bruder Lee Hsien Yang samt Ehefrau, Sohn Li Huanwu und dessen Ehemann Heng Yirui – den er in Südafrika geheiratet hatte.