In ihrem Buch «Queer Kids» hat die Soziologin und Autorin Christina Caprez 15 queere Kinder und Jugendliche aus ihrem Leben erzählen lassen. Die eindrücklichen und oft berührenden Geschichten illustrieren, dass es auch heute noch nicht leicht ist, queer aufzuwachsen. Insbesondere in den Schulen gibt es viel Verbesserungsbedarf.

Christina, wie kamst du auf die Idee, ein Buch über queere Jugendlichen zu schreiben?
Durch einen ABQ-Schulbesuch in der Innerschweiz vor vier Jahren. In der Klasse sass auch Max – eine Person, die zwar out and proud, aber auch sehr einsam war. In der Pause erklärte Max uns, dass they non-binär und omni sei, was auch ich erst mal nachschauen musste (sexuelle und emotionale Anziehung gegenüber allen Geschlechtern). Der Wissensunterschied zwischen Max und allen anderen illustrierte mir den enormen Aufklärungsbedarf. Die Begegnung hat mich sehr berührt.

Wie schwierig war es, Jugendliche zu finden, die bereit waren, derart offen Auskunft über ihr Leben und ihre Gefühle zu geben?
Weniger schwierig als ich ursprünglich dachte. Allerdings wollte ich möglichst das ganze Spektrum im Buch haben – also alle LGBTQA, Stadt, Land, Migrationsgeschichte, religiös etcetera – und das war eine Herausforderung. Aber über mein persönliches Netzwerk und Social Media meldeten sich viele, und ich fragte sie dann immer, ob sie Jugendliche anderer Identitäten oder Orientierungen kennen, die mir noch fehlten.

Hast du am Ende mit allen gesprochen, die sich gemeldet haben?
Nicht mit allen, aber ich habe mehr Gespräche geführt als nun im Buch sind. Ziel war, eine möglichst grosse Diversität von Geschichten und Erfahrungen abzubilden.


Christina Caprez (47) ist Soziologin, Historikerin, Autorin und Journalistin. Sie lebt in einer Regenbogenfamilie mit einem Kind in der Nähe von Zürich. Christina engagiert sich ausserdem beim Verein ABQ. Dieser bietet Workshops für Schulklassen an, in denen queere Menschen ihre Coming-out-Geschichten erzählen. Der Verein sucht aktuell neue Schulbesucher*innen, insbesondere People of Color und Menschen mit Migrationserfahrung. Informationen für Interessierte: abq.ch/mitmachen   Alle Lesungen unter queerkids.ch


Die Jüngste im Buch ist gerade mal 10 – war das ein anderes Gespräch als mit den etwas Älteren?

Oh ja. Wobei ich sie extrem reif und reflektiert für ihr Alter finde, aber halt mit der Sprache einer Zehnjährigen. Und natürlich gab es teils andere Themen, Sexualität etwa spielte bei ihr noch keine Rolle. Das Gespräch war letztlich nicht schwieriger als mit den Älteren. Aber natürlich mussten die Eltern an Bord sein. Wobei ich bei allen Minderjährigen das Einverständnis der Eltern einholte, vorausgesetzt die Kids waren zu Hause out. War dies nicht der Fall, anonymisierte ich ihre Geschichten stark.

Wann hast du sonst noch anonymisiert?
Wenn die Jugendlichen es explizit wollten, weil sie in ihrem Umfeld oder im Job nicht out sind. Deshalb sind einige auf den Fotos nur teilweise oder gar nicht erkennbar.

Die Jugendlichen reden unglaublich offen über ihre Situation: Wie hast du das geschafft?
Ich habe eigentlich nichts Besonderes getan, nur zugehört. Für einige war das so ungewöhnlich und schön, dass sie sich ganz von allein geöffnet haben. Queere Identitäten sind noch immer schambehaftet und stigmatisiert – ein Coming-out ist auch heute kaum je einfach reibungslos. Wenn du zuhörst, zeigst du Wertschätzung und signalisiert deinem Gegenüber: Du musst dich nicht schämen. Und natürlich meldeten sich vor allem jene, die auch Lust hatten, von sich zu erzählen.

Gab es Geschichten, die dich besonders berührten oder dir noch länger nachliefen?
Ich war schockiert, wie viele über Mobbingerlebnisse berichteten, Suizidgedanken hatten, Hilfe brauchten. Auch bin ich erstaunt über die Ohnmachts- und Einsamkeitsgefühle, die selbst heute noch mit dem Thema verbunden sind, gerade in den Schulen. Meist sind queere Identitäten dort nur in Spezialwochen ein Thema, sie werden nicht als eine von ganz vielen, selbstverständlichen Möglichkeiten präsentiert, sein Leben zu leben. Damit wird vermittelt, dass es etwas Seltsames ist, queer zu sein. Gleichzeitig war ich überrascht, wie reif und reflektiert diese Jugendlichen alle sind. Aber das liegt wohl daran, dass queere Kids ein Stück weit zur Selbstreflektion gezwungen werden, weil sie nicht der Norm entsprechen.

Wäre so ein Buch für dich als Jugendliche hilfreich gewesen?
Sehr! Ich bin bi, habe mich aber in der Schulzeit immer nur in Buben verliebt, weil andere Lebensweisen als die heterosexuelle kein Thema waren. Erst mit Anfang 20 realisierte ich, dass ich queer bin. Hätte ich damals so ein Buch in die Hände bekommen, hätte ich wohl schon eher begonnen, mich mit gewissen Gefühlen und Gedanken auseinanderzusetzen.

Das Internet und Social Media haben es leichter gemacht, Hass und Unsinn zu verbreiten. Hinzu kommt die politische Instrumentalisierung wie etwa bei den Kampagnen rund um trans Kinder.

Hat unsere Gesellschaft seither Fortschritte gemacht? Ist es leichter geworden, jung und queer zu sein?
Ja und nein. Queeres Leben ist heute viel sichtbarer und präsenter – punktuell sogar im Schulunterricht. Ausserdem gibt es Jugendgruppen und Social Media. Das innere und das äussere Coming-out liegen meist viel näher beieinander, das Werweissen über sich selbst dauert weniger lang. Gleichzeitig sind aber auch neue Widerstände entstanden, und das Internet und Social Media haben es leichter gemacht, Hass und Unsinn zu verbreiten. Hinzu kommt die politische Instrumentalisierung wie etwa bei den Kampagnen rund um trans Kinder.

Bei allen Herausforderungen und Ängsten, die in den Gesprächen auch zum Ausdruck kommen: Man hat doch das Gefühl, das sind starke Kids, die schaffen das!
Absolut. Einige von ihnen haben wirklich gelitten, aber können heute offen zu sich stehen und sind bereit, für sich selbst und andere zu kämpfen.

Aber die anderen gibt es sicher auch. Hoffst du, gerade sie mit einem solchen Buch stärken zu können?
Definitiv. Ursprünglich hatte ich Erwachsene, also Eltern, Lehrpersonen, Sozialarbeiter*innen als Zielpublikum im Auge, von denen viele ratlos auf diese Generation schauen. Aber beim Schreiben realisierte ich, dass das auch für die Jungen selbst wertvoll sein könnte.

Das Suizidrisiko für queere Kids ist weiterhin deutlich höher als für die anderen: Kein Wunder, wenn man all die vielen Mobbingerfahrungen in deinem Buch liest. Was braucht es, damit in den Schulen ein besseres Klima für queere Kids herrscht? Stehen da vor allem die Lehrer*innen in der Verantwortung?
Ja, aber auch die Schulleitungen. Sie müssen Leitlinien setzen und sicherstellen, dass diese auch umgesetzt werden. Schulen müssen eine Kultur schaffen, die Vielfalt positiv bewertet und unterschiedliche Lebenserfahrungen in einer Weise thematisiert, dass sich alle wohlfühlen können. Leider sind Schulleitungen oft eher defensiv, um problematische Reaktionen von Eltern oder der Öffentlichkeit zu vermeiden. Einzelne, besonders engagierte Lehrpersonen gibt es überall, aber die brauchen dann auch Rückendeckung.

Mir scheint, dass es den Eltern leichter fällt, verschiedene sexuelle Orientierungen zu akzeptieren als andere Geschlechtsidentitäten – das gilt sogar für progressive, links-feministische Eltern.

Ich hätte erwartet, dass lesbische, schwule und bi Kids es heute einfacher haben als trans und non-binäre Kids – aber in der Schule scheint es für alle ähnlich schwierig zu sein.
Tatsächlich erzählen auch cis Kids in meinem Buch von Mobbingerfahrungen. Aber mir scheint, dass es den Eltern leichter fällt, verschiedene sexuelle Orientierungen zu akzeptieren als andere Geschlechtsidentitäten – das gilt sogar für progressive, links-feministische Eltern. Sie unterstellen einem trans Kind viel eher eine «Phase» als einer lesbischen Tochter. Wissenschaftliche Studien wie das des Schweizer LGBTIQ+ Panel zeigen zudem, dass trans Kids immer noch wesentlich mehr Diskriminierung erfahren und häufiger Suizidgedanken haben.

Warum sind wir beim Mobbing immer noch nicht weiter?
Das frage ich mich auch. Im Gespräch mit der Schulsozialarbeiterin Lydia Staniszewski habe ich allerdings realisiert, dass es für die Lehrer*innen gar nicht so leicht ist einzugreifen, weil vieles versteckt passiert oder erst auf dem Heimweg. Und bei manchen Lehrpersonen sind eigene Mobbingerfahrungen aus der eigenen Kindheit noch präsent, sie schauen lieber weg, anstatt sich damit auseinanderzusetzen.

Und wie sollen die Schulen damit umgehen, dass Rechtsaussen-Parteien sie als Kulturkampfgebiet entdeckt haben und sie unter Druck setzen, damit Kinder nicht «zu früh» mit «solchen Themen» in Berührung kommen?

Sie sollten keinesfalls davon abrücken, dies dennoch zu thematisieren. Lydia Staniszewski empfiehlt, dass sich Schulen überlegen, wie man mit solchen Attacken umgeht, bevor sie passieren. Hilfreich wäre auch, so etwas wie einen Gendertag schon zu Beginn des Schuljahrs anzukündigen und als Selbstverständlichkeit darzustellen, die ausserdem Teil des Lehrplans 21 ist und jedes Jahr stattfindet. Die Schulen sollten Haltung zeigen, erklären, warum das wichtig ist – und vor allem den betroffenen Jugendlichen klar signalisieren, dass sie okay sind, wie sie sind.

Es gehört zur DNA rechter Parteien, Diversität abzulehnen – sie entspricht nicht ihrem Weltbild, egal ob es sich um Menschen handelt, die aus anderen Ländern hierherkamen oder um Menschen, die nicht den klassischen Geschlechterbildern entsprechen.

Geht es diesen Parteien vor allem um Emotionalisierung und Stimmenfang? Oder um mehr?
Es geht ganz klar auch um den Inhalt. Es gehört zur DNA dieser Parteien, Diversität abzulehnen – sie entspricht nicht ihrem Weltbild, egal ob es sich um Menschen handelt, die aus anderen Ländern hierherkamen oder um Menschen, die nicht den klassischen Geschlechterbildern entsprechen. Dass die meisten Jugendlichen heute freier leben wollen, irritiert sie und gefährdet noch dazu den Weiterbestand ihres Weltbilds.

Welche  Reaktionen hast du auf dein Buch bekommen?
Zu meinem Erstaunen nur positive – auch in den Kommentarspalten der Medien, die über das Buch geschrieben haben, waren die Diskussionen überraschend differenziert. Übrigens bekomme ich auch viele berührende Rückmeldungen von älteren Queers. Sie vergleichen die Geschichten mit dem, was sie selbst erlebt haben.

Was erhoffst du dir, dass Eltern, Lehrer*innen und andere Jugendliche daraus mitnehmen?
Mehr Offenheit dem Thema gegenüber. Wer mit Lebensweisen konfrontiert ist, die einem selbst fremd sind, sollte erst mal innehalten, zuhören, Fragen stellen – und das stehen lassen und nicht reflexartig ablehnen. Ausserdem hoffe ich, dass die Bandbreite an Erfahrungen im Buch anderen queeren Kids die Kraft gibt, ihren eigenen Weg zu finden.

Christina Caprez: «Queer Kids. 15 Porträts», Limmat Verlag 2024. Mit Fotografien von Judith Schönenberger.

 

Yaros Geschichte

Einer der von Christina Caprez porträtierten Jugendlichen ist der 20-jährige schwule Yaro. Er war 15, als sein Vater ihn und den Rest der Familie aus einem afrikanischen Land in die Schweiz nachholte. Seine Familie ist sehr christlich, was es ihm erschwert, offen zu seinen Gefühlen zu stehen. Yaros Gesicht auf dem Foto in «Queer Kids» wird von einem Buch verdeckt. Christina beschreibt ihren Eindruck von ihm so: «Am Bahnhof kommt mir ein schlanker, gross gewachsener Jugendlicher mit Handtasche, Cowboystiefeln und Jeans mit Schlag und Fransen entgegen. Sein Gang ist schwungvoll, und mir fällt sein herzhaftes Lachen auf.»

Schwulsein als Sünde

Yaro hat es nicht leicht mit seiner Queerness: «Ich bin damit aufgewachsen, dass Schwulsein eine Sünde ist, etwas Schmutziges. Ich hatte das Gefühl, dass ich falsch bin. Dass ich nicht existieren darf», erzählt er im Buch. Auch habe er die Erwartungen seines Vaters nie erfüllen können. Es gab immer viel Streit, und seine sehr religiöse Mutter gab immer ihm die Schuld dafür. «Meine Zuflucht war die Musik. Ich kann sehr gut singen. Für mich war das eine Bestätigung, dass ich nicht nutzlos bin, auch wenn ich schwul bin.»

Mit 14 war ihm klar, dass er sich für andere Jungs interessierte. Doch abgesehen von einem älteren Nachbarn kannte er damals keine anderen queeren Menschen. Als er mit 15 in die Schweiz kam, war das zuerst nicht leicht. «Es war schwierig, meine Kultur zu verlassen. Ich liebe das Essen, den Tanz, die Farben, die Musik; es machte mich traurig, das aufzugeben.»

Teilweises Coming-out in der Schweiz

Doch während er sich in seiner Heimat verstecken musste, wagte er in der Schweiz ein teilweises Coming-out. «Im zweiten Gymijahr habe ich angefangen, meine Queerness auszudrücken. Ich habe andere Queers kennengelernt und auch im Unterricht war es manchmal ein Thema. Meine Englischlehrerin war dabei eine grosse Hilfe. Sie war immer bereit zuzuhören, zu lesen und darüber zu reden.» Auch seine Mitschüler*innen akzeptieren ihn. «Nur einer war sehr homophob, mit klaren Vorstellungen, wie ein Mann sein muss.» Doch dies besserte sich mit der Zeit. «Er hat mir sogar gesagt, er habe durch mich gelernt, dass queere Menschen auch nur Menschen sind. Er hat sich komplett verändert.»

Mit 17 hatte er seinen ersten Freund, es hielt ein halbes Jahr. Aber seine Erfahrungen in der queeren Community sind nicht nur positiv: «Wenn du als junger Mann dort hineinkommst, wollen dich alle, weil du frisch und neu bist. Es besteht die Gefahr, dass du ausgebeutet wirst. Das ist ein einziger Fleischmarkt, die Männer dort wollen nur deinen Körper. Wenn ich kein Interesse zeigte, beleidigten mich manche mit rassistischen Schimpfwörtern. Das hätte ich nicht erwartet. Aber leider gibt es so viele Klasseneinteilungen in der Community, und das mag ich überhaupt nicht.»

Tiefe Krise nach Ferien in der alten Heimat

Auch mit der Familie bleibt es schwierig, ihnen gegenüber hält er alles geheim. «Dabei würde ich mein Leben, meine Begabungen so gern mit ihnen teilen.» Doch seine Eltern haben sehr klare Vorstellungen über seine Zukunft: «Ich soll eine Frau finden und eine Familie gründen.»

Nach einer Ferienreise in die alte Heimat geriet Yaro in eine tiefe Krise. «Wenn alle in deiner Umgebung sagen, dass du in die Hölle kommst, dass du schlecht bist, fängst du irgendwann an, es zu glauben. Ich versuchte mich zu zwingen, auf Frauen zu stehen, schaute Frauenpornos. Ich fragte Gott, warum er mich so erschaffen hat, wenn es doch nicht gut ist.»

Einmal schöpften sogar seine Eltern Verdacht. «Sie haben mich in ihr Zimmer gerufen, mein Vater hat die Tür abgeschlossen und mich gefragt, ob ich schwul bin. Ich habe verneint. Dann haben sie beide für mich gebetet und mir gesagt, dass alles okay sein wird und dass sie mit mir sind. Aber letztlich sehen sie mich als jemanden, der ‘geheilt’ werden muss. Nach diesem Erlebnis hatte ich sehr viele Suizidgedanken, ich sah wirklich keinen Sinn mehr im Leben. Mittlerweile geht es mir besser.»

Geld sparen für ein Studium im Ausland

Bis zur Matur muss er noch bei seinen Eltern leben und sich verstecken. «Danach möchte ich ein Zwischenjahr machen, einen Job finden, damit ich zum Studium ins Ausland gehen kann.» Eine Beziehung möchte er im Moment nicht. «Ich will zuerst meine Matur machen und versuche, nicht an meine Sexualität zu denken.»

Yaro hat auch eine Botschaft an Schulen und Lehrpersonen: «Viele queere Jugendliche haben Probleme mit ihrer Familie und ihrem Leben. Darum bringen sie in der Schule nicht so gute Leistungen, wie sie eigentlich könnten. Die meisten Jugendlichen aus meiner Klasse, die ein Jahr wiederholen mussten, sind queer. Doch viele müssen selber zurechtkommen. Wenn sie einen Ort hätten, an dem man ihnen zuhört, wo sie ihre Geschichte erzählen könnten, so wie ich es jetzt mache, wäre das eine grosse Hilfe. Wenn eine Lehrperson sagt: Ich sehe deine Situation, und ich verstehe, was du durchmachen musst.»