Seit ein paar Monaten hat Queeramnesty eine neue Gruppenleitung. Thomas Vinzenz und Arlette Zwahlen ziehen Bilanz und schauen vorwärts.
Arlette, Thomas, ihr habt vor ein paar Monaten die Gruppenleitung übernommen. Wird es Veränderungen geben gegenüber früher?
Thomas: Die einzelnen Arbeitsgruppen sollen stärker im Vordergrund stehen, also Focus Refugees, Aktionen & Projekte sowie die Redaktion. Die Hauptarbeit soll in diesen Gruppen passieren und weniger von der Gruppenleitung gesteuert werden als früher. Die Erfahrung zeigt, dass es produktiver ist, in kleinen Gruppen zu arbeiten. Ausserdem wollen wir uns vermehrt auf die inhaltliche Arbeit konzentrieren. Eine Reihe administrativer Aufgaben soll deshalb Anfang nächstes Jahr ausgelagert werden – wir stellen dafür vermutlich jemanden an, der_die das als freie_r Mitarbeiter_in für uns erledigt.
Arlette: Und wir wollen uns besser mit den anderen LGBTI-Gruppen vernetzen und koordinieren als bisher.
An der inhaltlichen Arbeit wird sich also nichts gross ändern?
Thomas: Letztlich entscheidet das die Gruppe als Ganzes, aber grundsätzlich wird sich vermutlich nicht viel ändern. Unser Fokus bleibt die Anwendung aller international anerkannten Menschenrechte auf die Lebensrealitäten von Lesben, Schwulen, Bi*-, Trans*- und Inter*-Menschen.
Arlette, du bist ja ganz neu dabei, was hat dich motiviert, dich bei Queeramnesty zu engagieren?
Ich habe schon bisher Freiwilligenarbeit mit Flüchtlingen gemacht, aber in kleinerem Rahmen. Nun wollte ich mal sehen, wie es ist, wenn man diese Arbeit als Teil einer grossen, international vernetzten Organisation wie Amnesty macht. Neu und sehr interessant ist für mich die LGBTI-Thematik, die oft nicht wahrgenommen wird – selbst in meinem Umfeld, das für Flüchtlingsthemen eigentlich offen ist. Ich finde es wichtig, dafür mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen. Aber auch ich muss mich in die LGBTI-Themen erst mal einarbeiten. Der Asylprozess zum Beispiel ist ganz anders bei jemandem, die_der wegen ihrer_seiner sexuellen Orientierung geflüchtet ist als bei einem Kriegsflüchtling.
Wie reagiert dein Umfeld darauf, dass du dich plötzlich für LGBTI-Anliegen engagierst?
Arlette: Es führt zu einigen spannenden Diskussionen. Gelegentlich gabs zu Beginn auch Irritation, meist aus Unwissen, aber das klärte sich schnell.
Ihr beide kennt euch erst seit kurzem: Wie läuft die Zusammenarbeit?
Arlette: Bisher läuft alles gut, finde ich. Inhaltlich bin ich natürlich noch sehr auf die Hilfe von Thomas angewiesen, weil für mich doch einiges neu ist.
Thomas: Im Moment habe ich noch den Lead, weil ich die Gruppe und ihre Arbeit halt besser kenne, aber nach und nach soll daraus eine Co-Leitung werden. Unsere Aufgabe ist ja vor allem die politische Vernetzung und die inhaltliche Gesamtkoordination.
Organisatorisch ging die Gruppe in der ersten Jahreshälfte durch eine kleine Krise. Was war das Problem und wie wurde es gelöst?
Thomas: Die Gruppenleitung war einige Monate nicht besetzt, weil sich niemand fand, die_der das übernehmen wollte. Das lag wohl auch daran, dass die Leitung zuviele Aufgaben hatte und für alles zuständig war. Das machte es schwierig, Leute zu finden, die sich dafür begeistern konnten. Also haben wir im Frühling die Aufgaben der Gruppenleitung entschlackt und eben auch beschlossen, administrative Aufgaben auszulagern bzw. neu zu verteilen. Bisher hat sich das ganz gut angelassen. Mein Eindruck ist, dass sich die Stimmung in der Gruppe wieder deutlich gebessert hat
Was waren 2016 die wichtigsten inhaltlichen Erfolge der Gruppe?
Thomas: Das wichtigste Projekt ist sicherlich die Hate-Crime-Kampagne. Da sind wir in Zusammenarbeit mit anderen LGBTI-Gruppen ein gutes Stück vorwärts gekommen. Es gibt jetzt eine Helpline, bei der man sich per Telefon und online jederzeit melden kann, wenn man Opfer eines Hassverbrechens oder einer Diskriminierung geworden ist. Ziel ist es, das alles statistisch zu erfassen, damit die Schweiz dazu endlich mal konkrete Zahlen hat. Seit November läuft auch eine Kampagne in der Öffentlichkeit. Queeramnesty hat für das Projekt rund einen Drittel der Finanzierung geleistet. Ebenfalls ein schöner Erfolg war die Pride in Zürich, an der wir viele Leute erreicht haben und viele Unterschriften sammeln konnten für Petitionen zu Tunesien und Georgien. Stolz bin ich auch aufs Magazin, das wir vor einem Jahr als Versuchsballon gestartet haben. Inzwischen hat es sich etabliert und scheint auch gut anzukommen. Und: Wir konnten auch dieses Jahr einige Menschen gewinnen, die neu aktiv mitarbeiten, insbesondere bei Focus Refugees, die zudem mehr Anfragen von queeren Asylsuchenden erhalten als bisher.
Wo liegen aus eurer Sicht die grössten Defizite bei LGBTI-Rechten in der Schweiz?
Arlette: Das wichtigste ist sicher, dass es auf nationaler Ebene endlich ein Gesetz für einen wirksamen Diskriminierungsschutz geben muss. Ausserdem sollten sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Fluchtgründe akzeptiert werden.
Thomas: Es fehlt auch immer noch das Recht auf Ehe und Adoption für gleichgeschlechtliche Paare.
Kann Queeramnesty da wirklich etwas bewirken?
Thomas: Wir werden es auf jeden Fall versuchen. Und wir haben Amnesty International im Rücken, das verstärkt unsere Wirkung. Aber es ist natürlich eine gemeinsame Aufgabe aller LGBTI-Organisationen. So ist es zum Beispiel Anfang Jahr gelungen, die CVP-Initiative abzuwehren, die en passant die Ehe als Gemeinschaft zwischen Mann und Frau definieren wollte.
Arlette: Ich denke, dass wir als Gruppe einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung und Sensibilisierung leisten können, zum Beispiel mit dem Magazin und mit der Hate-Crime-Kampagne.
Thomas: Viel bewirken wir auf jeden Fall bei der Begleitung und Unterstützung von LGBT-Flüchtlingen, da leisten wir direkte Hilfe, die sehr geschätzt wird. Wenn einer dieser Flüchtlinge in der Schweiz bleiben darf, haben wir einen Teil dazu beigetragen, dies zu ermöglichen.
Wie sieht denn die Erfolgsbilanz aus, wenn man etwas weiter zurückschaut? Was hat sich gebessert – auch dank Queeramnesty?
Thomas: Es hat sich ja zumindest in der westlichen Welt einiges gebessert im Umgang mit LGBTI-Menschen, und dazu hat unsere Arbeit der letzten 20 Jahre auch einen Betrag geleistet. Sicher sind wir massgeblich dafür verantwortlich, dass Amnesty International als global bekannte, exzellent vernetzte Menschenrechtsorganisation sich inzwischen stark bei diesen Themen engagiert. Und nur dank unserer Arbeit setzt sie sich mittlerweile auch für Inter*Menschen ein, vorher hatten sie die nicht auf dem Radar.
Wie bedeutend ist Queeramnesty innerhalb von Amnesty International Schweiz? Kommt von dort immer genügend Unterstützung?
Thomas: Mein Eindruck ist, dass wir von Amnesty geschätzt werden, weil wir halt Expert_innen in einem ganz bestimmten Bereich sind – davon können auch sie profitieren. Wir gehören zu den aktivsten Gruppen und geniessen inhaltlich auch immer grosse Rückendeckung: Unsere Resolutionen werden in der Regel einstimmig angenommen.
Worauf fokussiert Queeramnesty 2017?
Arlette: Die Hate-Crime-Kampagne wird weiterhin im Fokus stehen. Zudem feiert Queeramnesty 2017 sein 20-jähriges Bestehen, da ist einiges geplant.
Thomas: Aus diesem Anlass haben wir uns überlegt, was wir in den nächsten 10 bis 20 Jahren erreichen wollen. An der Herbst-Retraite Anfang November haben wir konkrete Forderungen formuliert, die wir Ende April als Resolution bei der Generalversammlung von Amnesty einreichen werden. Wir erhoffen uns dadurch auch eine gewisse Medienaufmerksamkeit dafür.
Es ist ja eine rein ehrenamtliche Arbeit: Finden sich immer genügend Leute aus der Gruppe, um jene Dinge zu tun, die getan werden sollten?
Arlette: Bisher habe ich den Eindruck, dass die Leute in der Gruppe sehr engagiert sind, viele Ideen haben und immer bereit sind, bei Aktionen mitzumachen.
Thomas: Bei konkreten Projekten und Aktionen funktioniert es eigentlich immer gut. Schwieriger ist es manchmal bei administrativen Aufgaben, aber die gehören halt auch dazu. Es braucht eine gewisse Struktur und Professionalität, damit die Gruppe funktioniert.
Queeramnesty kann nur dank Spendengeldern arbeiten. Wie haben sich die in den letzten Jahren entwickelt?
Thomas: Die Gruppe ist in den letzten Jahren personell gewachsen, gleichzeitig hat sich auch das Spendenvolumen vergrössert. Wir sind diesbezüglich gut unterwegs.
Thomas Vinzenz, IT-Spezialist aus Zürich: Seit drei Jahren bei Queeramnesty, durch seinen Partner in die Gruppe gekommen. Hat sich schon früher in LGBTI-Organisationen engagiert.
Arlette Zwahlen, Bachelor in Islamwissenschaften, derzeit in der Asylarbeit tätig, wohnt in Biel: Seit vier Monaten bei Queeramnesty, meldete sich auf den Aufruf nach Interessent_innen für die Gruppenleitung. Hat schon viel Erfahrung in der Flüchtlingsarbeit.