LGBTI* in Polen sind mit vielen Hindernissen konfrontiert. Doch es gab in den letzten Jahren auch positive Veränderungen. Im Zwiespalt zwischen der Progressivität der westlichen Welt und traditionell-konservativen Werten, muss sich die polnische Gesellschaft entscheiden, welchen Weg sie einschlagen möchte. Die Lage für LGBTI* in Polen ist dieses Jahr das Fokusthema von Queeramnesty.
Zuerst eine erfreuliche Nachricht: Im Juni 2019 fand in Warschau mit 50’000 Menschen der bisher grösste Pride-Anlass in Zentral- und Osteuropa statt. Erstmals beteiligte sich sogar der Bürgermeister der Stadt, Rafal Trzakowski, und sprach von einem Festwagen aus zu den Anwesenden. In ganz Polen fanden in mindestens 20 Städten Pride-Events statt – leider nicht überall ohne negative Begleiterscheinungen: In Bialystok etwa wurden Teilnehmer_innen der Pride mit Steinen, Feuerwerkskörpern, Flaschen und faulen Eiern beworfen.
Dies zeigt exemplarisch die Situation von LGBTI*-Menschen in Polen: die Akzeptanz wächst zwar, aber es gibt auch heftigen und lauten Widerstand. Polen hat einerseits grosse Fortschritte gemacht, doch andererseits ist die Situation für viele LGBTI* in kleineren und ländlicheren Orten immer noch geprägt von Intoleranz und Versteckspielen – besonders im konservativen Südosten.

KONSERVATIVE POLITIKER UND MEDIEN
2015 gelangte die rechtskonservative Partei PiS (Gesetz und Recht) erstmals an die Regierung, wohl auch wegen ihrer starken Anti-Immigrations-Rhetorik. Einige sehen darin Parallelen zum Umgang mit LGBTI*-Rechten. Kritiker der Partei sagen, sie beute damit schlicht ein vorübergehend kontroverses Thema aus: PiS «sucht einen Sündenbock und nutzt die Unsicherheitsgefühle der Leute aus. Sie versuchen, die öffentliche Aufmerksamkeit weg von den echten Problemen auf imaginäre Probleme zu richten», sagt etwa Robert Biedron, Polens erster offen schwuler Politiker.
«ATTACKE AUF FAMILIE UND KINDER»
Die starke homophobe Haltung kann auch als Gegenreaktion auf einen Beschluss interpretiert werden, der im Februar 2019 vom Warschauer Bürgermeister verabschiedet wurde. Dieser unterstützt LGBTI*-Rechte und Aufklärung in Schulen nach Standards der WHO. PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski verurteilte den Beschluss als «Attacke auf Familie und Kinder». Ferner nannte er LGBTI*-Rechte eine «importierte Gefährdung der polnischen Identität, unserer Nation, ihrer Existenz und damit des polnischen Staates». Christliche Werte des stark katholischen Landes müssten geschützt werden und die «traditionelle Familie» bestehen bleiben.
Mittlerweile haben sich insgesamt 100 polnische Gemein den als «frei von LGBT-Ideologie» erklärt (siehe unten), unterstützt von PiS. Mehrere Politiker sprachen sich zugunsten der Deklarationen aus, und in Lublin soll ein Repräsentant der Regierung sogar Medaillen an lokale Politiker vergeben haben, die für die Deklaration gestimmt hatten.
Auch polnische Medien porträtieren die LGBTI*-Bewegung in einem zunehmend schlechten Licht. Ein Bericht des Zentrums für Vorurteilsforschung der Universität Warschau von 2017 schildert, dass seit der Regierungsübernahme durch PiS die Häufigkeit von Hassreden in den Medien um 25% angestiegen sei. Die Zeitung Gazeta Polska verteilte beispielsweise in einer Ausgabe Sticker für «LGBTI-Ideologie-freie Zonen». Diese negative Darstellung hat besonders bei jungen Leuten eine starke Wirkung: Laut dem gleichenBericht äussern sie Hass häufiger, zudem sei die Sensibilität gegenüber homophoben Aussagen gesunken.

INTOLERANZ WEIT VERBREITET
All dies macht den Alltag von LGBTI*-Menschen in Polen nicht leicht. Sie berichten in diversen Medien, dass es schwierig sei, offen zu leben, und dass die Anfeindungen durch die PiS die Situation verschlimmert hätten. In kleinen Städten seien LGBTI*-Menschen oft isoliert, viele kommunizierten nur versteckt über Facebook-Gruppen. Zudem haben laut einer Kampagne gegen Homophobie 12% von nicht-heterosexuellen Menschen schon physische Gewalt erlebt, und 90% der Gewalttaten werden gar nicht erst gemeldet. Verbaler Hass kommt noch deutlich häufiger vor.
Auch in den grossen Städten ist Intoleranz noch vorhanden, in kleinen und ländlichen Gegenden jedoch herrscht oft komplette Inakzeptanz. «Wir sind ein gespaltenes Land», sagte ein Schwuler aus Warschau dem Magazin i-D. «Wir haben diese riesige Spannung zwischen dem progressiven und dem traditionellen Teil der Bevölkerung, und die Politiker nutzen diese Spannungen perfekt.»
ZUKUNFTSCHANCEN
Viele Menschen in Polen bleiben dennoch hoffnungsvoll. Verschiedene Studien zeigen, dass die polnische Gesellschaft insgesamt offener gegenüber LGBTI*-Menschen geworden ist, vor allem in den grossen Städten. In einer Umfrage von CBOS von 2001 hatten noch 41% der Befragten gesagt, dass Homosexualität nicht normal sei und nicht toleriert werden sollte. 2017 sahen dies nur noch 24% so. Mehr Leute befürworten eingetragene Partnerschaften und gleichgeschlechtliche Ehen. Und dass 2019 so viele Pride-Events stattfinden konnten, illustriert die zunehmende Toleranz.
WENIG SCHUTZ FÜR QUEERE MENSCHEN
Der Kampf für LGBTI*-Rechte ist aber noch lange nicht vorbei. In vielen Bereichen fehlt es queeren Menschen immer noch an Schutz – Rechte, die schon in fast allen EU-Staaten etabliert sind, gelten in Polen nicht (siehe Kasten oben). Aber die Tendenz zu mehr Toleranz und Akzeptanz dürfte sich fortsetzen, hofft jedenfalls Robert Biedron: «Auch wenn man Politiker hat, die mit Hass und Stereotypen operieren, ist es offensichtlich, dass ein Teil der Gesellschaft ihnen das alles nicht abkauft», sagte er der Times. «Mehr Menschen sind tapfer genug, um auf die Strassen zu gehen und Gleichberechtigung einzufordern – und dies bedeutet Hoffnung für Polen.»
«LGBT-IDEOLOGIE-FREIE ZONEN»: Seit 2019 haben sich insgesamt rund 100 Gemeinden, darunter auch 5 ganze Provinzen im Südosten des Landes, als «frei von LGBT-Ideologie» erklärt. Diese Deklaration ändert zwar keine Gesetze oder Regulationen, setzt aber ein klares Zeichen, was man von LGBTI*-Menschen und -Themen hält. Auf lokaler Ebene entstanden zudem nicht-bindende Beschlüsse, Toleranz gegenüber queeren Menschen nicht zu unterstützen. Auch die finanzielle Unterstützung von Organisationen, die für LGBTI*-Rechte kämpfen, soll gestoppt werden. Die Zeitung «Gazeta Polska» verteilte Anti-LGBT-Aufkleber. Das europäische Parlament hat diese Zonen am 18. Dezember 2019 klar verurteilt und Polen aufgefordert, sie aufzuheben und weitere Diskriminierung zu verbieten.
RECHTLICHE LAGE: Polen belegte bezüglich LGBTI*-Rechten 2019 den 39. Platz (von 49) in Europa, gemäss der ILGA-Rangliste. Die Schweiz lag auf Platz 28 (auch kein Ruhmesblatt). Gründe für die schlechte Position sind etwa das Fehlen von jeglichem Schutz vor Hass und öffentlicher Diskriminierung sowie die Unmöglichkeit von eingetragenen Partnerschaften oder gleichgeschlechtlicher Ehe. Auch eine Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare ist nicht erlaubt. Zwar ist Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund der sexuellen Orientierung verboten, doch in vielen anderen Bereichen stehen LGBTI*-Menschen in Polen ohne rechtlichen Schutz da. Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität ist immer noch erlaubt, und eine Geschlechtsanpassung kann nur erfolgen, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind. So muss man sich etwa Hormontherapien oder Operationen unterziehen, was langwierig und kostspielig ist, da Krankenkassen dies oft nicht übernehmen.