EIN PRÄSIDENT, DER SEINEN SOHN LIEBER TOT ALS SCHWUL SEHEN WÜRDE, EINE HORRENDE MORDRATE AN LGBTI*-MENSCHEN, EIN SCHWULER ABGEORDNETER, DER WEGEN ANHALTENDER DROHUNGEN AUS DEM LAND FLIEHT – UND DAS BEI EINER FÜR SCHWEIZER VERHÄLTNISSE VORBILDLICHEN RECHTSLAGE UND DER GRÖSSTEN PRIDE DER WELT. EIN BLICK AUF BRASILIEN.

Der Tropfen, der das Fass für Jean Wyllys zum Überlaufen gebracht hat, war die Ermordung von Marielle Franco. Die schwarze, lesbische Politikerin wurde im März vergangenen Jahres auf offener Strasse erschossen. «Mit dieser Exekution wurde klar, dass es nicht nur darum geht, Leute einzuschüchtern und ruhig zu stellen – sondern dass es eine reale Gefahr für mein Leben gibt», sagte Wyllys, der erste offen schwul lebende Kongressabgeordnete Brasiliens, Anfang April dem Berliner «Tagesspiegel». Morddrohungen, die wachsende homofeindliche Stimmung und die stark zunehmenden gewaltsamen Übergriffe auf nicht-heterosexuelle Menschen im Zuge des hitzigen Präsidentschaftswahlkampfs 2018 hätten ihn schliesslich dazu bewogen, das Land zu verlassen, erklärte er der brasilianischen Tageszeitung «Folha de S. Paulo».

Diese Flucht ist umso schockierender angesichts der Rechte, die LGBTI*-Personen in Brasilien zugestanden werden – ganz abgesehen davon, dass homosexuelle Handlungen seit 1823 mit der Erlangung der Unabhängigkeit Brasiliens nicht mehr strafbar sind. Die lokale LGBTI*-Bewegung hat Erfolge verbuchen können, die auch in der Schweiz bisher unerreicht bleiben: Zahlreiche Bundesstaaten berücksichtigen in ihren Antidiskriminierungsgesetzen seit Jahren die sexuelle Orientierung, wobei trans und nonbinäre Personen davon in vielen Fällen ausgenommen bleiben. 2013 wurde gleichgeschlechtlichen Paaren, die sich bisher bereits als união estável eintragen lassen und Kinder adoptieren konnten, vom Obersten Gerichtshof das Recht auf Ehe zugesprochen. Seit 2018 wird keine Operation, Hormontherapie oder medizinische Diagnose mehr verlangt, um einen Geschlechtseintrag ändern zu können – und der Oberste Gerichtshof sollte am 23. Mai 2019 darüber entscheiden,ob Homo- und Transphobie auf nationaler Ebene kriminalisiert werden. Ob und wie dieses Urteil ausfiel, war beiRedaktionsschluss jedoch noch nicht bekannt.

420 TODESFÄLLE IN EINEM JAHR

Diese rechtlichen Errungenschaften sind eindrücklich, stehen jedoch in hartem Kontrast zu den gesellschaftlichen Verhältnissen im Alltag. Die extrem unterschiedliche Vermögensverteilung verläuft vor allem entlang ethnischer Grenzen, Polizeigewalt gegen die schwarze Bevölkerung ist an der Tagesordnung, ebenso Gewalt gegenüber LGBTI*-Personen. Gemäss der Schwulenrechtsorganisation Grupo Gay da Bahia (GGB) wurden 2018 mindestens 420 Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Transidentität ermordet oder nahmen sich das Leben. Die GGB bezieht sich dabei auf Todesfälle, die von einer aktiven Zivilgesellschaft in den sozialen Medien öffentlich gemacht oder – in wenigen Fällen – von Zeitungen gemeldet wurden. Die jährlich erhobene inoffizielle Statistik hingegen bleibt angreifbar. Henrique Mota, LGBTI*-Aktivist und Wirtschaftsstudent in Río de Janeiro, richtet seinen Aufruf diesbezüglich auch an Amnesty International: «Ein ziemlich schockierender Aspekt der LGBT-Sterblichkeit ist das Fehlen offizieller Statistiken zu gemeldeten Verbrechen – und der Mangel an Engagement durch internationale NGOs.»

Jean Wyllys, der erste offen schwul lebende Kongressabgeordnete Brasiliens, hat das Land verlassen.

«ES MUSS SICH ETWAS IN DEN HERZEN UND KÖPFEN VERÄNDERN»

Politikwissenschaftler Omar G. Encarnación versucht in seinem Buch «Out in the Periphery: Latin America’s Gay Rights Revolution» das Paradoxon zu erklären, dass Brasilien zwar eine rechtlich vorbildliche Lage für LGBTI* bietet, aber trotzdem einer der gefährlichsten Orte für Menschen anderer sexueller oder geschlechtlicher Orientierung ist. Nebst den starken evangelikalen Kräften im Land und einem politischen System, das die Verabschiedung von Gesetzen im Kongress schwierig mache, weise der seit den 1970er-Jahren existierende traditionelle LGBTI*-Aktivismus in Brasilien beträchtliche Lücken auf. Lange Zeit habe man nur den politisch-rechtlichen Weg gesehen und dabei die kulturelle Arbeit vernachlässigt. Die enge Zusammenarbeit mit der linken Arbeiterpartei «Partido dos Trabalhadores» (PT) und deren Kongressabgeordneten vor allem in den 90er-Jahren führte zwar dazu, dass LGBTI*-Anliegen sichtbar wurden. Auch wurde HIV/AIDS Mitte der90er-Jahre in enger Zusammenarbeit mit dem Staat erfolgreich bekämpft. Und die Strategie, Gesetze mit Klagen an den höchsten Gerichtshöfen zu erkämpfen, die etwa eine Gruppe von Anwält_innen für Geschlechter- und sexuelle Diversität ab 2010 verfolgte, funktionierte ebenfalls. Doch gleichzeitig haben es die grossen LGBTI*-Organisationen über Jahre hinweg versäumt, mit den Menschen zu sprechen. Es müsse sich etwas in den Herzen und Köpfen derMenschen verändern, fasst Encarnación zusammen. Denn homofeindliche Haltungen seien in Brasilien nicht einfach das Problem einzelner Gruppen, sondern weit verbreitet in der gesamten Gesellschaft.

VERSTECKSPIEL MIT ERNSTHAFTEN KONSEQUENZEN

Das erlebt auch Caio so, ein 23-jähriger Student aus Río de Janeiro. Seine Familie gehört der weissen Mittelschicht an. Er berichtet im Gespräch mit Queeramnesty von einem Leben, das über weite Strecken einem Versteckspiel mit ernsthaften Konsequenzen gleicht: Vor seinem Coming-out bewegte er sich in der queeren Szene mit einem Decknamen, aus Angst, dass jemand ihn oder seine katholische Familie erkennen könnte. Jahre später stellte die Mutter den damals 19-Jährigen nach einem Streit vor die Tür. «Zum Glück hat mein Vater mich aufgenommen, der zu diesem Zeitpunkt bereits von meiner Mutter getrennt lebte.» Doch damit endete die Unterstützung des Vaters bereits: Caios Schwulsein durfte weder angesprochen noch sichtbar werden. Als er sich eines Tages die Haare buntfärbte, fragte der Vater, ob er trans sei: «Wenn ja, dann bist du hier nicht willkommen.» Caio betont, dass er als Sohn einer relativ vermögenden, weissen Familie viele Privilegien geniesse. Wenn er an seinem Arbeitsplatz in Río aus dem Fenster schaut, blickt er auf eine Favela. «Ich weiss von Paaren, die sich in Bussen des öffentlichen Verkehrs treffen müssen. Die Strasse ist zu gefährlich für sie – und zu Hause sind sie ebenso wenig willkommen.»

«WIR KÄMPFEN NICHT FÜR DIE HOMO-EHE, SONDERN UMS ÜBERLEBEN»

Die Situation von LGBTI* in vielen Favelas sei schwierig, sagte auch Transfrau Gilmara Cunha in einem Interview mit BBC Brasil 2016. Cunha ist Mitbegründerin der ersten NGO für LGBTI* in einer Favela, der Gruppe Conexão G. «Menschen, die in einer Favela leben, haben nicht vonder Erweiterung von LGBT-Rechten profitiert. Wir kämpfen nicht für die Homo-Ehe, wir kämpfen ums Überleben.»Vom Staat vernachlässigt, werden die historisch von Arbeiter_innen bewohnten Gebiete oft von Drogenkartellen oder Milizen kontrolliert, und evangelikale Kirchen fördern homo- und transfeindliche Vorurteile. Das Misstrauen gegenüber der Polizei und dem Staat ist aufgrund gewaltsamer Eingriffe gross, offizielle Gesetze und Rechte können oft nicht durchgesetzt werden. Aus diesem Grund konzentriert sich Conexão G vor allem darauf, Vorurteile abzubauen. «Wir haben mit Performances auf öffentlichen Plätzen angefangen, um den Menschen Freude zu machen und zu zeigen, dass wir keine Gefahr für sie oder ihre Kinder sind.» Diese Strategie des Dialogs sei sehr erfolgreich, so Cunha. Im Complexo da Maré, der Favela der Conexão G, kann seit einigen Jahren sogar ein Pride-Festival stattfinden– mit inzwischen Tausenden von Besucher_innen.

Es sei jetzt mehr denn je die Aufgabe, die Einstellungen der Bürger_innen Brasiliens zu ihren LGBTI*-Mitmenschen zu verändern, realisieren nun auch die Vertreter_innen der traditionellen LGBTI*-Organisationen im Gespräch mit Politologe Encarnación. Denn solange queere Menschen um ihre Existenz und Unversehrtheit fürchten müssen, reicht es nicht, heiraten zu dürfen. Veränderungen müssen auf allen Ebenen angestrebt werden.

Dieser Artikel erschient im Queeramnesty-Magazin Nr. 15.