Dank dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hat der von Queeramnesty begleitete schwule ­Iraner Kian Azad* doch noch eine Chance, in der Schweiz Asyl zu erhalten. Das Gericht sprach sich Ende 2024 gegen die Ablehnung seines ­Asylgesuchs durch die Schweizer Behörden aus. Wir haben mit Kian und seiner Anwältin ­Stephanie Motz gesprochen.

Kian Azad (34) wuchs in einem kleinen iranischen Dorf in einer ultrareligiösen Familie auf. Als diese auf Umwegen von seinem Schwulsein erfuhr, begann sie, ihn zu bedrohen. Gemeinsam mit seinem damaligen Freund flüchtete er zunächst in die Türkei. Dort jedoch ging ihre Beziehung in die Brüche. Kian reiste allein nach Serbien weiter, wo er einige Zeit in einer Asylunterkunft lebte. Schlepper transportierten ihn dann in einem Lastwagen weiter. Eher zufällig landete er dabei in der Schweiz, wo er offiziell um Asyl bat. Das ist nun rund sechs Jahre her. Sein Asylverfahren erwies sich allerdings als langwierig und schwierig. Schliesslich lehnte die Schweiz sein Gesuch ab – mit der Begründung, er wäre im Iran ja sicher, solange er seine Sexualität «diskret» auslebe. Seine Anwält*innen klagten gegen diesen Entscheid der Schweiz erfolgreich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg.

Die besten Jahre seines Lebens verloren

Das Urteil vom November 2024 löste bei Kian zwar Freude aus, aber auch Trauer. «Es fühlt sich an, als hätte ich die besten Jahre meines Lebens verloren», sagte er kurz nach dem Gerichtsentscheid in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger». «Die letzten Jahre als Nothilfebezüger waren geprägt von Angst, Stress und Unsicherheit.

Und dann kommt diese Nachricht aus Strassburg – als würde man mich wieder ins Leben zurückholen.» Aktuell lebt er im Tessin, zu seinen Verwandten im Iran hat er keinen Kontakt mehr. Und noch immer wartet er auf einen Entscheid der Schweizer Behörden. Ein Revisionsgesuch zur Umsetzung des EGMR-Urteils ist aktuell beim Bundesverwaltungsgericht hängig. Bis dahin bleibt Kians Situation in der Schwebe. «Obwohl ich hier lebe, existiere ich nicht wirklich. Ich darf nicht arbeiten.» ­Italienisch hat er sich selbst beigebracht. Dabei wünscht er sich nur endlich «ein normales Leben» und ein Ende der Unsicherheit.

Anschluss und psychologische Unterstützung

Queeramnesty begleitet Kian seit 2021 im Asylprozess. «Dadurch habe ich hier in der queeren Community Anschluss gefunden», erzählt er. «Ausserdem bekam ich emotionale und psychologische Unterstützung. Ich erhielt Beratung, Zugang zu Selbsthilfegruppen und lernte sichere Räume für queere Geflüchtete kennen.» So konnte er an der Pride und anderen queeren Veranstaltungen teilnehmen. «Sobald ich meine Aufenthaltsbewilligung habe, möchte ich mich stärker selbst für andere queere Asylsuchende engagieren.» Doch schon der bisherige Austausch ist hilfreich. «Die emotionale Belastung, wenn ein Asylverfahren sich immer weiter verlängert, ist enorm. Viele fühlen sich isoliert und unsicher über ihre Zukunft.» Kian versucht, anderen moralische Unterstützung zu bieten und alle nützlichen Informationen weiterzugeben, die er durch seine eigenen Erfahrungen gesammelt hat. «Und ich ermutige sie, mit Organisationen wie Queeramnesty Kontakt aufzunehmen, die wertvolle Orientierungshilfe und Rechtsberatung bieten können.»

Schwierigkeiten des Asylverfahrens

Aus Kians Sicht gibt es einige typische Probleme für queere Geflüchtete im Schweizer Asylsystem. «Den Beamten, die diese Asylanträge prüfen, mangelt es an Wissen und Bewusstsein. Sie sind sich nicht über die spezifischen Herausforderungen im Klaren, mit denen sich queere Personen in ihren Herkunftsländern auseinandersetzen müssen. Das kann zur Ablehnung von Asylanträgen führen.» Zudem werde von queeren Asylsuchenden oft erwartet, dass sie ihre sexuelle Orientierung oder ihre Geschlechtsidentität nachweisen. «Dies kann äusserst schwierig sein, insbesondere wenn sie gezwungen waren, dies in ihrem Heimatland zu verbergen.» Hinzu kommt die psychische Belastung: «Es kommt immer wieder vor, dass queere Asylsuchende in Flüchtlingsunterkünften Belästigungen, Drohungen und Gewalt ausgesetzt sind. Gleichzeitig führen die langwierigen Asylverfahren zu grosser Unsicherheit, manchmal auch zu Depressionen, Angstzustände oder sogar Suizidversuchen. Umso wichtiger ist die Unterstützung durch Queeramnesty.»(cs)

 

 

 

«Kein Mensch kann seine sexuelle Orientierung auf Dauer verstecken, ohne ­irgendwann aufzufliegen»

 

Rechtsanwältin Stephanie Motz hat für Kian* den Erfolg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erkämpft. Sie erklärt, warum dieses Urteil einen wichtigen Schritt ­weiter geht als bisherige Entscheidungen.

Foto: Goran Basic

 

Frau Motz, Sie haben Kian vor dem EGMR vertreten. Ab welchem Punkt des Asylverfahrens waren Sie involviert?

Das nationale Verfahren wurde bereits von einer kompetenten Rechtsvertretung in der Schweiz geführt. Ich wurde erst hinzugezogen, als das Bundesverwaltungsgericht das Asylgesuch letztinstanzlich abgelehnt hatte und sich die Frage stellte: Was nun? Da ich auf internationale Prozessführung – auch im Asylbereich – spezialisiert bin, wandte man sich an mich.

Wäre eine Anrufung des EGMR ohne anwaltliche Vertretung überhaupt möglich?

Theoretisch ja – praktisch scheitern Laien aber oft schon an den formalen Hürden. Das Strassburger Gericht stellt strikte Anforderungen an Beschwerden, sodass viele Laieneingaben mit ein bis zwei Sätzen ohne inhaltliche Prüfung für unzulässig erklärt werden. In einem Fall wie bei Kian kommt noch die Sprachbarriere hinzu, die eine Beschwerde ohne professionelle Unterstützung faktisch unmöglich macht.

Der EGMR hat entschieden, dass die konkrete Bedrohungslage für Kian nicht ausreichend geprüft wurde. Gab es noch andere Argumente gegen die Abschiebung?

Unser Hauptargument war klar: Kian drohten im Iran Verhaftung, Folter und möglicherweise der Tod – es sei denn, er würde seine sexuelle Orientierung verbergen. Das ist das sogenannte «Diskretionsargument». Doch genau das darf in einem Asylverfahren kein Massstab sein. Hinzu kam der klare Diskriminierungsaspekt: Heterosexuelle können im Iran heiraten, offen zusammenleben und eine Zukunft planen, während Homosexuelle unsichtbar bleiben müssen, um zu überleben.

Es gab ja mit dem Fall «B und C vs. Schweiz» bereits im Jahr 2020 ein ähnliches EGMR-Urteil. Hätte die Schweiz nicht deshalb schon ihre Asylrechtssprechung ändern müssen?

Genau, eigentlich wurde das Diskretionsargument schon mehrere Male vom EGMR zurückgewiesen. Trotzdem hatte die Schweiz das Gefühl, wenn jemand wie Kian schon einige Zeit aus Angst vor Verfolgung diskret im Iran gelebt hatte, könne man das ja auch wieder von ihm erwarten, wenn er zurückginge. 

Spiegelt das Urteil also nur eine gängige Spruchpraxis des Gerichtshofs wider oder enthält es etwas wegweisend Neues?

Der EGMR geht in seinem Urteil einen entscheidenden Schritt weiter als bisher: Er sagt nicht nur, dass das Diskretionsargument rechtlich unzulässig ist, sondern dass Diskretion praktisch keinen Schutz vor Verfolgung bieten kann. Kein Mensch kann seine sexuelle Orientierung mit Sicherheit auf Dauer verstecken, ohne irgendwann aufzufliegen – und genau darin liegt die Gefahr.

Wird dieses Urteil nun auch Auswirkungen auf künftige Asylverfahren in der Schweiz oder in anderen Ländern haben?

Für die Schweiz ist dieses Urteil ein wichtiger Weckruf – das Diskretionsargument wurde vom Staatssekretariat für Migration (SEM) und vom Bundesverwaltungsgericht leider immer wieder angeführt. Andere Länder haben ihre Asylpraxis längst angepasst. Doch das Urteil sorgt auch international für Aufsehen, was zeigt, dass es über die Schweiz hinaus Wirkung entfalten dürfte.

Es hat den Anschein, dass manche Länder – zum Teil auch die Schweiz – sich in letzter Zeit nur noch wenig um EGMR-­Urteile scheren. Nehmen Sie das auch so wahr, und was kann der ­Gerichtshof dagegen tun?

Das kann ich so nicht bestätigen. Die Schweiz befolgt EGMR-Urteile in der Regel konsequent und hat auch dieses Urteil klaglos akzeptiert. Natürlich hinterlässt die Reaktion des Bundesrats auf das Klimaseniorinnen-Urteil einen faden Beigeschmack. Doch es lohnt sich ein Blick in die Geschichte: In den 1980er-Jahren stand die Schweiz nach dem Bellilos-Urteil kurz vor dem Austritt aus der EMRK – heute verdanken wir diesem Entscheid einen besseren Rechtsschutz im Strafverfahren.

Nochmals zurück zu Kian: Trotz des EGMR-Urteils hat er noch immer keinen endgültigen Asylstatus – die Schweizer Behörden sind angeblich noch dabei, das EGMR-Urteil zu analysieren. Könnte es sein, dass er doch noch abgeschoben wird?

Das halte ich bei der aktuellen Lage im Iran für komplett unrealistisch. Der EGMR hat klargemacht, dass Diskretion rechtlich und faktisch keine Option ist. Als schwuler Mann hat Kian keine Chance auf ein sicheres Leben im Iran. (kl)