Andreas Zünd ist seit diesem Jahr der Schweizer Richter am Europäischen ­Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Ein Gespräch über die «Ehe für alle», die ­«lebendige» Menschenrechtskonvention und die Gefahr gesellschaftlicher Rückschritte.

 

Herr Zünd, im aktuellen Abstimmungskampf zur «Ehe für alle» wird oft argumentiert, diese sei «ein Menschenrecht». Lässt sich das zum Beispiel aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), ableiten?

Nein. Aus der Rechtsprechung zur EMRK folgt keine Pflicht der Europarats-Staaten, die «Ehe für alle» einzuführen. Das zu tun, ist eine Frage des politischen Prozesses in den Mitgliedsstaaten wie hier in der Schweiz. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nie so entschieden. Ich will keine Prognosen für die Zukunft machen, aber derzeit ist das nicht der Stand der Rechtssprechung.

 

«Aus der Rechtsprechung zur EMRK folgt keine Pflicht der Europarats-Staaten, die ‹Ehe für alle› einzuführen. Das zu tun, ist eine Frage des ­politischen ­Prozesses in den Mitglieds­staaten wie hier in der Schweiz.»

 

Aber muss es nicht zumindest irgendein Institut für die rechtliche Absicherung gleichgeschlechtlicher Paare geben – wie etwa die eingetragene Partnerschaft?

Gleichgeschlechtliche Paare dürfen nicht diskriminiert werden. Verdichtet sich das zu einer eigentlichen Verpflichtung, ein Rechtsinstitut zu schaffen? Je nach nationalem Kontext bejahte dies der EGMR – aber nicht generell und ohne Rücksicht auf die nationalen Gegebenheiten. Allerdings und hochaktuell: Mit dem Urteil Fedotova gegen Russland (Anm. d. Red.: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Russland dazu verurteilt, gleichgeschlechtliche Paare rechtlich anzuerkennen. Die Nicht-Anerkennung verstosse gegen das Recht auf staatliche Achtung des Privat- und Famlienlebens (Art. 8 der Europäischen Menschenrehtskonvention (EMRK).) vom 13. Juli 2021 wurde dies zu einer generellen, für alle Europaratsstaaten verbindlichen Verpflichtung.

 

Andreas Zünd
Dr. iur. Andreas Zünd (64) ist seit Anfang 2021 Schweizer Richter am Europäischen Gerichtshof für ­Menschenrechte. Der Jurist stammt aus dem ­Aargau und war seit 2003 Richter am ­Schweizerischen ­Bundesgericht in Lausanne.

 

Das heisst, die EMRK gilt manchmal nur relativ zu dem, was in einem Land schon irgendwie politisch oder gesellschaftlich akzeptiert ist?

Die Menschenrechtskonvention setzt Mindeststandards, zu denen sich die Mitgliedsstaaten verpflichten. Die einzelnen Staaten dürfen selbstverständlich darüber hinausgehen. Der EGMR ist jedoch ein internationales Gericht, das für 47 Europaratsstaaten zuständig ist. Seine Rechtsprechung hat grundsätzlich Geltung für die Menschen von Grönland bis Wladiwostok. Menschenrechte können aber – je nach gesellschaftlicher Entwicklung – eine unterschiedliche Ausprägung erfahren, und deshalb urteilt der Gerichtshof auch auf Basis des jeweiligen nationalen Kontexts.

Aber warum gibt es so viel Ermessensspielraum, etwa in LGBTI*-Fragen?

Der Ermessensspielraum – die marge d’appréciation – ist sogar in der Präambel der Konvention enthalten. Es gibt also einen Beurteilungsspielraum für die Mitgliedsstaaten, vor allem für die Gerichte. Wenn der EGMR sieht, dass ein oberstes Gericht des Mitgliedsstaats die Konventionsrechte ernst genommen hat, sie nach allen Seiten abgewogen hat, dann wird er nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen des Mitgliedsstaats stellen.

Gibt es dafür noch andere Beispiele – abseits vom Thema LGBTI*?

Ja, beispielsweise bei der Meinungsäusserungsfreiheit. Die marge d’appréciation ist sehr eng, wenn es um die Zulässigkeit politischer Debatten geht. Aber sie wird weit, wenn es etwa um die Zulässigkeit von bestimmten Werbemethoden geht.

In Ungarn ist das gerade ein aktuelles Thema. Unternehmen dürfen beispielsweise kein schwules Paar mehr in ihrer Werbung zeigen. Liegt das noch im Ermessensspielraum oder nicht?

Ich kenne diese Gesetzgebung in Ungarn nicht im Detail. Aber der Gerichtshof hat sogenannte «Propagandaverbote» schon als menschenrechtswidrig berurteilt. Sie betreffen die Meinungsäusserungsfreiheit – völlig klar. Sie haben eine stigmatisierende Wirkung und leisten Vorurteilen und Homophobie Vorschub. Im Fall Bayev gegen Russland (Anm. d. Red.: Der EGMR stellte fest, dass das russische Verbot der Bewerbung von Homosexualität die Art. 14 (Diskriminierungsverbot) und 10 (Freiheit der Meinungsäusserung) verletzt.) hat der Gerichtshof im Jahr 2017 folgerichtig eine Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit festgestellt. Da ist der Spielraum sehr eng, weil die Frage eine wichtige Debatte betrifft und zudem die Menschenwürde tangiert ist.

Das «Anti-Propaganda-Gesetz» in Russland gibt es aber ­immer noch. Wie kann ein EGMR-Urteil eigentlich durchgesetzt ­werden?

Die meisten Urteile werden umgesetzt, das gilt namentlich auch für Russland. Dafür gibt es einen Durchsetzungsmechanismus. Jeder Staat ist für die Umsetzung selber verantwortlich, aber unter der Aufsicht des Ministerkomitees. Das ist das politische Entscheidungsorgan des Europa­rates.

Und was passiert, wenn trotzdem nichts vorwärts geht?

Dann bleibt der Fall auf der Agenda, und der Staat muss immer wieder Bericht erstatten. Das Ministerkomitee kann auch an den Gerichtshof herantreten mit der Frage, ob der Staat die Umsetzung gemacht hat oder nicht – das erhöht den Druck. Der Mechanismus ist ein juristischer und diplomatischer zugleich, und das ist wahrscheinlich auch das Erfolgversprechendste in einem internationalen Kontext.

Wenn nun in einem Land immer mehr Verletzungen passieren und die Durchsetzungsmechanismen auch nicht mehr greifen – müsste es dann aus der EMRK austreten, oder könnte es aus dem Europarat ausgeschlossen werden?

Ja, das kann die letzte Konsequenz sein, aber sie ist natürlich nicht gewünscht.

Ist das schon einmal passiert?

Ja, beim Obristen-Regime von Griechenland (Anm. d. Red.: Militärdiktatur in Griechenland von 1967 bis 1974) führte eine Staatenklage schliesslich zum Austritt aus dem Europarat. Aber nochmals: Die meisten Urteile werden umgesetzt. In politisch sensitiven Bereichen braucht es etwas mehr Zeit, aber die Fälle bleiben auf der Agenda. Der Durchsetzungsmechanismus ist real. Es geht ja oft nicht nur darum, etwas nur im Einzelfall umzusetzen, sondern dass die Gesetzgebung angepasst wird.

 

«Die Menschenrechts­konvention ist ein «instrument vivant», ein lebendiges ­Instrument. Wenn wir einer versteinerten Auslegung der EMRK den Vorzug gäben, wäre noch heute die Körperstrafe zulässig.»

 

Zurück zu LGBTI*-Rechten: Noch vor einigen Jahrzehnten wurden in vielen Staaten – auch EMRK-Mitgliedern – homosexuelle Beziehungen mit Gefängnis geahndet. Heute sind diese Personen grundrechtlich weitgehend geschützt, nicht zuletzt aufgrund der EGMR-Rechtssprechung. Wie kann man sich das erklären? Am Wortlaut der Menschenrechtskonvention hat sich in diesem Bereich ja nichts geändert.

Das ist richtig. In einigen Ländern war gleichgeschlechtlicher Verkehr ein Straftatbestand oder es existierten unterschiedliche Altersgrenzen. Da gab es einige Urteile des Gerichtshofs, die massgeblich dazu beitrugen, dass dies nicht mehr zulässig ist. Die Menschenrechtskonvention ist ein «instrument vivant», ein lebendiges Instrument. Sie hält mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt und kann ihr mit Bedacht vorausgehen. Wenn wir einer versteinerten Auslegung der EMRK den Vorzug gäben, wäre noch heute die Körperstrafe zulässig. Und die EMRK wäre ein bedeutungsarmes Instrument.

«Instrument vivant» könnte aber auch bedeuten: Es kann wieder rückwärts gehen, wenn sich gesellschaftliche Bedingungen verändern?

Das ist absolut möglich – Menschenrechte, wie auch die demokratische Rechtsordnung, sind niemals gesichert. Sie hängen in ihrer Durchsetzung auch mit den gesellschaftlichen Bedingungen zusammen. So herrschte etwa in Russland nach der Oktoberrevolution eine weit liberalere Haltung als in den meisten anderen Ländern, nachdem die strafrechtliche Sanktion gleichgeschlechtlichen Verkehrs abgeschafft wurde. Später jedoch kam es zu einer gegenläufigen Entwicklung. Wie gesagt, gesellschaftlicher Fortschritt ist niemals gesichert. Wenn Sie mich aber konkret fragen, ob die Interpretation zurückgenommen werden muss, wenn die gesellschaftliche Entwicklung rückschrittlich ist, zögere ich schon, dem zuzustimmen. Was als menschenrechtlicher Mindeststandard anerkannt ist, kann in aller Regel nicht mehr relativiert werden.

Wie lassen sich Rückschritte verhindern?

Gesellschaftliches Engagement spielt eine wesentliche Rolle. Aber es gibt auch einen Faktor, der Ihnen vielleicht nicht so Freude macht: Die Rechtsprechung des EGMR darf zwar dynamisch sein und soll es auch. Aber zu viel ­Dynamik kann Rückschläge provozieren. Dieser Aspekt mahnt zu Umsicht in der Rechtsprechung. Wäre es nicht auch eine Möglichkeit, sich weniger auf Interpretationen zu verlassen und mehr schriftlich niederzulegen? Das ist schon möglich. Die Europarats-Staaten ergänzen die Konvention mit Zusatzprotokollen. Nehmen wir als Beispiel das Verbot der Todesstrafe. Es wurde in Zusatzprotokollen kodifiziert und damit auch stärker abgesichert. Zusatzprotokolle sind aber nur verbindlich für Staaten, die diese auch ratifizieren.

 

«Diskriminierungen, die auf den inhärenten Gegebenheiten eines Menschen beruhen, tangieren dessen Menschenwürde. Wenn dem Gerichtshof solche Fälle vorgelegt werden, fallen Entscheidungen, die auch entsprechende Rechte nach sich ziehen.»

 

Für Lesben und Schwule hat sich in vielen Staaten vieles verbessert, aber bei den Rechten für trans und intergeschlechtliche Personen sieht es in vielen Mitgliedsländern noch sehr schlecht aus. Könnte der EGMR da in Zukunft eine ähnliche ­Rolle spielen wie bei den Rechten für Schwule und Lesben?

Ja, das ist sehr gut vorstellbar. Der Gerichtshof macht aber keine abstrakten Regelungen, es geht immer um die Verletzung von Menschenrechten konkreter Personen. Diskriminierungen, die auf den inhärenten Gegebenheiten eines Menschen beruhen, die unabwendbar sind für diesen Menschen, tangieren dessen Menschenwürde. Wenn dem Gerichtshof solche Fälle vorgelegt werden, fallen Entscheidungen, die auch entsprechende Rechte nach sich ziehen.

Kann man sagen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwas Einzigartiges ist und weltweit eine gewisse Vorbildwirkung hat?

Es gibt noch andere Gerichtshöfe für Menschenrechte, zum Beispiel den Interamerikanischen und den Afrikanischen, mit denen wir im Austausch sind. Aber der EGMR hat etwas Spezielles: seinen Durchsetzungsmechanismus. Der ist weltweit wohl das beste internationale Instrument zur Durchsetzung der Menschenrechte. Darauf basiert auch sein Ansehen weltweit. Aber ich möchte nicht einem Eurozentrismus das Wort reden. Es gibt auch wichtige Entwicklungen andernorts. Was den Schutz der Umwelt betrifft, können wir in Europa auch nach San José in Costa Rica schauen (Sitz des Interamerikanischen Gerichtshofs).

Zum Schluss nochmals eine Frage zur Schweiz: Was halten Sie davon, wenn in einer direkten Demokratie über Menschenrechtsfragen und Minderheitenrechte abgestimmt wird? Ist das überhaupt sinnvoll?

Es kann sinnvoll sein. Schauen Sie gerade die «Ehe für alle» an: Wollen wir ein Mehr an Menschenrechten? Oder nicht? Das ist eine politisch motivierte menschenrechtliche Fragestellung, die sinnvoll ist. Aber es kann auch das Gegenteil geschehen, dass also Menschenrechte eingeschränkt werden. Und dann ist der Gerichtshof dazu berufen, die Grenzen zu bestimmen.

Das heisst, im Zweifel gilt die Konvention?

Ja, solange ein Mitgliedstaat nicht aus der Konvention ausgetreten ist, gilt die Konvention – auch gegen nationales Verfassungsrecht. (kl)

 

 

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Der EGMR mit Sitz in Strassburg ist ein internationales Gericht, das seit seiner Gründung 1959 über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention wacht. Einzelpersonen können sich direkt an den Gerichtshof wenden, wenn der innerstaatliche Instanzenweg ausgeschöpft ist. Jeder Mitgliedsstaat entsendet eine*n Richter*in in den EGMR. Die Richter*innen sind unabhängig und keine Vertreter*innen ihres jeweiligen Staates.

Der EGMR ist keine Einrichtung der Europäischen Union, sondern zuständig für mehr als 800 Millionen Menschen in allen 47 Mitgliedsstaaten des Europa­rates, also auch für alle Schweizer*innen.

 

7 Fallbeispiele: Wie entscheidet der EGMR in LGBTIQ*-Fragen?

Eine im Sommer 2021 erschienene Broschüre des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenreche (SKMR) stellt sieben Fallbeispiele aus ganz Europa vor. Sie erklärt dabei die Argumente des EGMR für die Gutheissung oder Abweisung einer Beschwerde in verständlicher Sprache. Die Publikation «Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die Rechte von LGBTIQ*-Menschen» gib es hier als kostenloses E-Book.

 

(Fotos: EGMR; Dreamstime)