Schon mit zehn Jahren wusste Louis, dass er schwul ist. Doch im südostasiatischen Myanmar ist das schwierig. Als er nach dem Militärputsch 2021 Demonstrationen organisiert, wird er festgenommen, gefoltert, vergewaltigt – und kommt nur knapp mit dem Leben davon. Im Mai 2023 flüchtet er in die Schweiz, seit Herbst 2023 wird er von Queeramnesty begleitet. Doch der lange Asylprozess und die Ungewissheit zehren an seinen Nerven.

Louis (der eigentlich anders heisst) spricht recht gut Englisch und auch ein bisschen Deutsch, dennoch bringt er zum Gespräch sicherheitshalber eine Dolmetscherin mit – eine Landsfrau, die schon länger hier lebt, mit einem Schweizer verheiratet ist und den jungen Mann erst seit ein paar Monaten kennt. Als er später im Gespräch recht emotionslos in seiner Muttersprache erzählt, wie er von Soldaten nach seiner Festnahme in Myanmars Hauptstadt Yangon gefoltert und vergewaltigt wurde, bricht sie angesichts von so viel Grausamkeit in Tränen aus. Sie muss sich erst mal fassen, bevor sie seine Worte übersetzen kann.

Louis hat Schreckliches durchgemacht und ist bestens dokumentiert. Auf seinem Tablet zeigt er Videos, wie er nach dem Militärputsch im Februar 2021 als Wortführer an Demos Parolen deklamiert. Die Fotos, wie er unmittelbar nach der Folter ausgesehen hat, sind auf Hochglanzpapier ausgedruckt und zeigen sein geschwollenes, rotes Gesicht und seinen geschundenen Körper. «Sie haben 25 Leute an dieser Demo verhaftet», berichtet Louis, «nur sechs haben die Folter überlebt – ich bin einer von ihnen.»

Der Vater verspottete und schlug ihn

Der heute 32-jährige ausgebildete Koch erzählt, dass er schon mit zehn Jahren wusste, dass er auf Jungs steht. «Meine Mutter hat das akzeptiert, mein Vater hingegen konnte damit nicht umgehen. Er hat mich nicht nur regelmässig verspottet, sondern auch geschlagen.» Louis ist in einer sehr christlichen Mittelstandsfamilie in Yangon aufgewachsen, die vom Handel mit Lebensmitteln ein moderates Einkommen hatte. «Aber die ständigen Schläge meines Vaters führten zu Kopfverletzungen, die eine höhere Schulbildung verunmöglichten.»

Er begann, ehrenamtlich in einer Schule für Taubstumme mitzuarbeiten. Deren italienischer Leiter schlug ihm vor, eine Kochausbildung zu absolvieren. Dafür verbrachte er zwei Jahre in Hongkong und drei Monate in Australien, bevor er zurückkehrte und mehrere Jahre als Koch an der Schule arbeitete.

Schwulsein als Strafe für früheres Leben

Louis hätte auch gerne eine Beziehung gehabt. «Aber das ist schwierig in Myanmar. Es gibt keine Orte, wo man sich treffen kann, keine Organisationen, die sich für queere Rechte engagieren, es gibt nur Grindr.» Über diese App traf er ab und zu andere Schwule, aber mehr ergab sich daraus nie. «Das hätte mein Vater auch gar nicht zugelassen, er hat mich immer sehr genau kontrolliert.»

Louis hofft weiterhin auf einen positiven Asylentscheid der Schweizer Behörden.

Queere Menschen haben es generell schwer in Myanmar. «Die Leute schauen auf uns herab, sie denken, dass du als Strafe für dein früheres Leben so bist, dass du keine gute Seele hast», sagt Louis. In der kurzen Phase der Teil-Demokratisierung, die Myanmar unter Aung San Suu Kyi zwischen 2012 und 2021 erlebte, gab es zwar vorsichtige Anzeichen einer Öffnung – nicht nur hinsichtlich der Menschenrechte generell, sondern auch bezüglich queeren Rechten. «Daraus hätte möglicherweise mehr werden können, aber der Militärputsch im Februar 2021 hat das alles zunichte gemacht.»

Monatelange Hölle

Louis beschloss, sich dagegen aufzulehnen und organisierte nicht nur Demos in seinem Quartier, sondern engagierte sich auch in den Sozialen Medien gegen den Putsch und für Menschenrechte, insbesondere die Rechte Behinderter und queerer Menschen. Am 10. April wurde er dann an einer Demo verhaftet. Eine Woche lang wurde er an verschiedenen Orten in Kellern geschlagen, mit Elektroschocks und Nadeln gefoltert – selbst im Gesicht, so dass seine rechte Gesichtsseite teilweise gelähmt und sein Augenlicht eingeschränkt war. «Als sie mitbekamen, dass ich schwul bin, wurde ich von drei Soldaten vergewaltigt bis ich fast gestorben wäre.»

Aber Louis überlebte und wurde schliesslich in ein reguläres Gefängnis gesteckt, angeklagt und zu drei Jahren Haft verurteilt. Die Zeit im Gefängnis war furchtbar, doch dann hatte er Glück: Weil das Regime an einer grossen internationalen Konferenz teilnehmen wollte, entliessen sie im Oktober 2021 als Zeichen ihres guten Willens einige politische Gefangene, darunter auch Louis. Nach einer monatelangen Hölle war er wieder auf freiem Fuss. Allerdings nur theoretisch. «Ich stand weiter unter Beobachtung, und das Risiko einer erneuten Verhaftung war gross.»

Retraumatisierung in unterirdischer Asylunterkunft

So flüchtete er in die Grenzregion nahe Thailand und kam bei einer Kirche unter. «Eine der Schwestern dort hat meine physischen und psychischen Wunden gepflegt und mir wieder auf die Beine geholfen.» Es war dann der italienische Leiter der Schule, wo er gearbeitet hatte, der ihm riet, das Land zu verlassen. Er half ihm mit den notwendigen Dokumenten, bestach die richtigen Leute und arrangierte sogar ein Schengenvisum. «Er war es auch, der mir empfahl, es in der Schweiz zu versuchen», erzählt Louis. Und so kam er im Mai 2023 im Flugzeug via Bangkok in Zürich an und bat offiziell um Asyl.

Die Zeit seither war nicht leicht für ihn. Umso mehr als er andere Asylsuchende mit deutlich weniger dramatischen Geschichten kennengelernt hat, die schon nach sechs Monaten eine B-Bewilligung hatten. «Das scheint mir alles nicht sehr fair», sagt Louis. Zu Beginn hatte er zu allem Übel mehr als ein halbes Jahr in einer unterirdischen Asylunterkunft in Sulgen TG verbringen müssen, was nicht nur sein Asthma verstärkte, sondern eine Art Retraumatisierung nach den Erlebnissen in den Folterkellern auslöste.

Er wünscht sich mehr juristische Unterstützung

Mittlerweile lebt er nun schon länger in einer Asylunterkunft in der Nähe der Stadt St. Gallen, wo er sich einen Schlafraum mit sieben weiteren Leuten teilt. «Das ist anstrengend, aber okay. Es wissen auch alle, dass ich schwul bin, Probleme gibt es deswegen keine.» Im Herbst 2023 hatte er bei einem Arztbesuch ein Plakat von Queeramnesty entdeckt und sich dort gemeldet. Dadurch lernte er andere queere Asylsuchende kennen und konnte an Prides teilnehmen. «Das hilft ein bisschen, aber ich wünschte mir noch mehr juristische Unterstützung.»

Die Warterei und die Ungewissheit zehren an seinen Nerven. Er sagt, dass er in dunklen Momenten auch schon an Suizid gedacht habe. Ansonsten versucht er, sich zu beschäftigen. Unter der Woche besucht er einen Deutschkurs, am Sonntag geht er in die Kirche, einerseits weil er gläubig ist, andererseits weil er dort auch eine unterstützende, hilfsbereite Gemeinschaft findet.

Traum vom eigenen Coiffeurgeschäft

Louis’ Fall scheint klar zu sein. Und natürlich hofft er sehr, von den Schweizer Behörden schliesslich einen positiven Entscheid zu erhalten. «Zurück nach Myanmar kann ich nicht. Das wäre mein sicherer Tod», ist er überzeugt. Mit seinen Eltern und Freunden dort ist er noch immer in Kontakt, sie wissen, wo er sich befindet und was er tut. Doch auch seine Familie musste innerhalb Myanmars flüchten. «Weil die Soldaten mich nicht erwischen konnten, verfolgen sie nun sie.»

Sein Traum ist, hier in der Schweiz eine Ausbildung zum Hairstylisten zu machen. Kochen ist leider keine Option mehr, denn eine Spätfolge der Folter bewirkt, dass sein Gesicht anschwillt, wenn er Hitze zu nahekommt – in einer Profiküche unvermeidlich. «Später möchte ich mein eigenes Coiffeurgeschäft speziell für taubstumme Kund*innen eröffnen.» Natürlich hätte er auch gerne eine feste Beziehung, am liebsten auch Kinder. «Und ich möchte mich hier für queere und behinderte Menschen engagieren.»

Denkt er, dass sich die Lage in Myanmar irgendwann mal wieder soweit bessert, dass er dereinst zurückgehen kann? Louis überlegt eine Weile. «Solange das Militär an der Macht ist, wird das nicht möglich sein. Aber sollte es stürzen, gibt es vielleicht eine kleine Hoffnung.»

Titel-Illustration: Paraskevi Chrysopoulidou