«TIME» BEZEICHNETE DIE KARIBIKINSEL 2006 ALS «DEN HOMOPHOBSTEN ORT DER WELT». SEITHER HAT SICH VIEL GETAN. ABER NEBEN GRÖSSERER SICHTBARKEIT VON LGBTI*-MENSCHEN UND WACHSENDER AKZEPTANZ GIBT ES WEITERHIN GEWALT, DISKRIMINIERUNG UND HARSCHE GESETZE.
In vielen Ländern gibt es schon seit Jahrzehnten Pride-Märsche und -Veranstaltungen. Die erste Pride in Jamaika fand 2015 statt – und bestand aus einem Flashmob von 15 Personen, die sich in einem Park in der Hauptstadt Kingston zeigten, gekleidet in den Farben des Regenbogens. Man kann nur erahnen, wie viel Mut es gebraucht haben muss, daran teilzunehmen, umso mehr als Jamaika zuvor primär mit Gewalt gegenüber LGBTI*-Menschen Schlagzeilen machte.
GEWALT AN SCHWULEN WURDE FREUDIG BESUNGEN
«The most homophobic place on earth» lautete der Titel eines Artikels, den das «Time»-Magazin 2006 über die Karibikinsel verfasste. Zu den furchtbarsten Taten der letzten Jahre gehört der Mord am 16-jährigen Dwayne Jones im Sommer 2013, der in Frauenkleidern an eine Party gegangen war. Als man entdeckte, dass sich unter der Kleidung ein junger Mann befand, rottete sich ein Mob zusammen. Dwayne wurde verprügelt, mit Messern verletzt, erschossen und schliesslich mit einem Auto überfahren, seine Leiche am Strassenrand ins Gebüsch geworfen. Der Mord ist bis heute unaufgeklärt, die Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen.
Hintergrund dieser aggressiven Homophobie ist ein Mix aus ultrakonservativer Religiosität, drakonischen Gesetzen aus der britischen Kolonialzeit und einer Reggae-Szene, in der über Jahre die Gewalt an Schwulen freudig besungen wurde. Zum Beispiel in «Boom Bye Bye», einem Hit des Reggae-Stars Banton, der das Abknallen von Schwulen feiert oder das Verbrennen ihrer Haut mit Säure. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei, und der brutale Mord an Dwayne Jones hat dazu beigetragen, weil er weite Teile des Landes aufgerüttelt hat. Zentral für die positiven Veränderungen ist auch die Arbeit des Jamaica Forum for Lesbians, All-Sexuals and Gays (J-Flag), das letzten Dezember sein 20-jähriges Bestehen gefeiert hat.
Bei ihrer Gründung 1998 löste die Organisation nur Empörung und Spott aus. Als sie 2017 im Parlament Änderungen an der harschen Gesetzgebung forderte, hörten die Politiker_innen höflich zu. J-Flag hat auch die offizielle Unterstützung eines früheren Justizministers und des Bürgermeisters von Kingston, sogar der Premierminister hat sich schon positiv geäussert. «Das ist ein grosser Schritt vorwärts», sagte Glenroy Murry von J-Flag kürzlich dem britischen «Guardian». «Man ist jetzt bereit, sich mit uns auszutauschen, uns zuzuhören.»
GEFÄNGNIS UND ZWANGSARBEIT FÜR SCHWULEN SEX
Doch noch gelten die Gesetze: Analsex bleibt verboten und steht auf der gleichen Stufe wie Sex mit Tieren, ebenso andere Intimitäten zwischen Männern. Es drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis und Zwangsarbeit. Sogar die «Beihilfe» zu schwulem Sex kann mit Gefängnis bestraft werden. Frauen hingegen betrifft die Gesetzgebung nicht – ein typischesPhänomen, das sich auch in anderen Ländern findet und oft damit zu tun hat, dass die Sexualität von Frauen als weniger bedrohlich empfunden und deshalb auch nicht kriminialisiert wird. In der Regel macht dies das Alltagsleben für Lesben jedoch nicht leichter.
«ALLES IST VIEL OFFENER GEWORDEN»
Trotz dieser Rechtslage hat sich gesellschaftlich einiges getan. Das lässt sich auch daran ablesen, dass letztes Jahr 1200 Personen an einer Strandparty während der Pride teilgenommen haben – eine eindrückliche Steigerung gegenüber 2015. «Als ich 2011 mein Coming-out hatte, war die Szene noch weitgehend versteckt und im Untergrund», erzählte die lesbische Suelle Anglin von J-Flag letztes Jahr dem Magazin «GQ». «Mittlerweile ist alles viel offener, unsere Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit ist enorm gewachsen. Geschäfte heissen uns explizit bei sich Willkommen, es gibt eine aktive LGBTQ-Partyszene, die sich an öffentlich sichtbaren Orten trifft.» Homophobe Kommentare gebe es zwarnochimmer,insbesondereonline.«AberindendreiJahren, in denen ich bei J-Flag bin, gab es keinerlei Drohungen oder Zwischenfälle an unseren Veranstaltungen. Sicherlich auch, weil wir ein gutes Verhältnis zur Polizei haben, die jeweils ein paar ihrer Leute vor Ort hat.»
ÖFFENTLICHES ERWACHEN
Es habe eine Art öffentliches Erwachen gegeben, sagte Jaevion Nelson vom J-Flag-Leitungsteam dem «Guardian». Als er sich 2010 der Organisation anschloss, hatte sie gerade mal drei Angestellte, mittlerweile sind es 14, dazu kommen über 200 Freiwillige, die an der steigenden Zahl von Veranstaltungen und Programmen mithelfen. Inzwischen engagiert sich J-Flag nicht mehr nur für LGBTI*-Rechte, sondern für die generelle Entwicklung der Karibikinsel. Die Gruppe hilft mit bei der HIV-Prävention und engagiert sich für eine intakte Umwelt, bringt sich auch ein bei den Plänen der Regierung für deren «Vision 2030». «Wir versuchen so gut wie möglich, bei diesen breiteren Debatten mitzureden und nicht nur über LGBTI*-Themen zu sprechen», sagt
Suelle Anglin. «Denn wir existieren auch ausserhalb dieser Gemeinschaft, sind Teil der gesamten jamaikanischen Gesellschaft.» Es gehe daher nicht nur um LGBTI*-Antidiskri- minierung und das Recht auf Ehe, sondern generell darum, wie auch queere Menschen in Jamaika das bestmögliche Leben leben können.
WEITERHIN HOMO- UND TRANSFEINDLICHE GEWALT
Trotz allem gibt es weiterhin homo- und transfeindliche Gewalt. J-Flag hat in der ersten Jahreshälfte 2018 26 Zwischenfälle festgehalten, darunter zwölf physische Angriffe und drei Attacken durch einen Mob. Das sind mehr als im ganzen Jahr 2017, wo 24 Fälle registriert wurden. Im jüngsten jährlichen Status-Update hält J-Flag zudem fest, dass viele queere Jamaikaner_innen noch immer unter Diskriminierung und fehlendem gesetzlichen Schutz leiden. Zudem gab es Ende 2018 einen Rückschlag für die Or- ganisation: Das Gebäude in Kingston, in dem J-Flag seine Räumlichkeiten hatte, wurde durch ein Feuer zerstört. Verletzt wurde zum Glück niemand, aber der Verlust des«Rainbow House» und seiner Infrastruktur wiegt schwer. Der Grund für den Brand ist bis heute unklar.
J-Flag hat nun 2019 zum Jahr des Wiederaufbaus erklärt. Derzeit werden Spenden für ein neues Hauptquartier gesammelt. Und auch dieses Jahr wird wieder eine Pridestattfinden. In Montego Bay wird vom 13. bis 20. Oktobergefeiert, unter anderem mit Partys und Talentwettbewerben. Vermutlich wird die Zahl der Teilnehmenden erneut ein wenig ansteigen.
Dieser Artikel erschien im Queeramnesty-Magazin Nr. 15.