Weihnachten naht. Doch die Religion tut sich oft schwer mit queeren Menschen – und umgekehrt. In den letzten Jahren hat sich allerdings sogar bei den Freikirchen etwas getan. Roland Weber ist selbst in einer evangelikalen Familie aufgewachsen und hat Jahre gebraucht, seinen Glauben mit seinem Schwulsein zu versöhnen. Gelungen ist ihm dies auch dank dem Verein Zwischenraum, wo er sich seither stark engagiert.


Roland, du bist gläubig und schwul. Wie schwierig war es, diese beiden Aspekte miteinander zu versöhnen?
Es war ein langer und schwieriger Prozess. Ich bin im Berner Jura in einer Täufergemeinde und später in einer Pfingstgemeinde aufgewachsen, mit einem jüngeren Bruder und sehr homophoben Eltern. Sexualität war generell ein rotes Tuch. Als Teenager wurde mir klar, dass ich auf Jungs stehe. Ich habe mich wahnsinnig geschämt deswegen und wäre am liebsten in einem Loch versunken. Ich habe auch niemandem etwas gesagt, obwohl meine Mutter wohl was geahnt hat. Erst als ich aus beruflichen Gründen mit 22 in die Stadt Bern zog, begann ich mich, mit meinem Schwulsein auseinanderzusetzen. Ich hatte viele Fragezeichen, gegenüber der schwulen Szene, aber auch gegenüber dem Glauben. Mir war klar: Das wird ein mühsamer, steiniger Weg.

Du hast es dann erst mal mit einer Art Konversionstherapie versucht.
Ja, 1996 sah ich einen Beitrag in einer TV-Sendung, in der ein junger Mann auftrat, der behauptete, er habe sein Schwulsein wegtherapiert. «Das ist die Lösung!», dachte ich. Über den Sender nahm ich Kontakt auf, und wir trafen uns zu einem Abendessen. Das war dann auch das erste Mal überhaupt, dass ich mich jemandem anvertraute, ich war damals 24. Wir redeten, er gab mir Infomaterial, und ein Jahr später schliesslich, als der Leidensdruck gerade mal wieder besonders gross war, meldete ich mich für eine Art Seelsorge-Programm an, das man wohl heute als Konversionstherapie bezeichnen würde. Die Basis war freikirchlich-evangelikales Gedankengut aus den USA, das versprach, die sexuelle Orientierung lasse sich so verändern. Das Programm hat viel Zeit und Geld gekostet, und ich habe es dreimal absolviert. Es war auch nicht alles Unsinn, ich habe einiges über mich gelernt. Aber nach dem dritten Mal war ich noch gleich schwul wie vorher.

«Es war furchtbar, ich war wirklich verzweifelt und überlegte mir ernsthaft, den Glauben aufzugeben, da dies mit dem Schwulsein ja offensichtlich nicht ging.»

Wie hat sich das angefühlt?
Furchtbar. Ich war 27, 28 Jahre alt und steckte in einer der tiefsten Glaubens- und Lebenskrisen überhaupt. Ich war wirklich verzweifelt und überlegte mir ernsthaft, den Glauben aufzugeben, da dies mit dem Schwulsein ja offensichtlich nicht ging. Aber wer war ich denn noch, wenn ich meinen Glauben aufgab, der fundamental zu mir gehörte? Das war eine gefährliche Phase, und ich kenne Leute, die in solchen Momenten Suizidversuche unternommen habe. Bei mir war das nicht der Fall, aber ich hatte schon den Gedanken, dass es wohl besser wäre, es gäbe mich nicht.

Und wie kamst du da wieder raus?
Eines Tages erzählte mir ein guter Freund vom Verein Zwischenraum. Zuerst war ich skeptisch, versuchte es aber schliesslich doch. Und realisierte rasch: Das ist ein Ort für Menschen, die es wie ich erfolglos mit Seelsorge und Konversionstherapien versucht haben. Ich fühlte mich je länger je wohler dort, man traf sich ein, zweimal im Monat, und es gab viele mit ähnlichen Lebensgeschichten. Ich fing dann an, mich nochmals neu mit dem Glauben zu befassen und lernte theologische Aspekte aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Es war eine sehr spannende Reise, und in gewisser Weise wurde Zwischenraum für mich zu einer Ersatzkirche; er ist ein Ort, wo die Menschen so sein dürfen wie sie sind. Ich bin dort nun seit über 20 Jahren engagiert und konnte vielen anderen helfen, eine neue Gemeinschaft zu finden.

Roland Weber (52) ist Co-Leiter der Zwischenraum-Gruppe Bern, aktiv bei internationalen Foren christlicher queerer Gruppen und langjähriger Berater bei der LGBT-Helpline-Gruppe Bern. Er sass zudem viele Jahre im Vorstand von Zwischenraum Schweiz. Der Single arbeitet bei der Bundesverwaltung und lebt im Raum Bern.
Zwischenraum ist ein Netzwerk für Menschen, «die davon überzeugt sind, dass sich christlicher Glaube und Queerness nicht widersprechen, sondern mit zu einem erfüllten Menschsein beitragen können». Die Organisation bietet einen sicheren Hafen für gläubige Menschen, die mit ihrer andersartigen Sexualität ringen.
www.zwischenraum-schweiz.ch, www.zwischenraum.net
Lesetipp: «Echt schwul – Echt Christ», Jeremy Marks, ISBN 978 1 903905 89 0, Leseprobe und Buch via webermail@gmx.ch

 

Und wie lange hat es gedauert, bis beide Welten wirklich versöhnt waren?
Schon ein paar Jahre. Ein Schlüsselmoment war 2008, als ich bei einem Treffen von Zwischenraum Deutschland in Wiesbaden einen britischen Gastredner kennenlernte, der einst Konversionstherapien angeboten hatte und nun seine ganze Geschichte reflektierte. Bei dieser Gelegenheit habe auch ich das so intensiv getan wie wohl noch nie zuvor. Er schrieb darüber dann sogar ein Buch, das ich auf Deutsch übersetzte und das eigentlich alle Christen, Kirchenverantwortliche und Pastoren lesen sollten, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen (siehe Lesetipp oben). Aber für gewisse Christen ist sowas eine Bedrohung, weil sie Dinge über den Haufen werfen müssten, an die sie jahrzehntelang geglaubt haben.

Wie ist heute dein Verhältnis zur evangelikalen Welt? Ich nehme an, deine Familie und viele frühere Freund*innen sind immer noch dort?
Mein Coming-out in der Familie fand hochoffiziell mit 32 statt, und es war nicht leicht für sie. Mein Vater hat bis heute Probleme damit, obwohl er seither einiges gelesen hat, meine Mutter kam besser damit klar, doch sie ist inzwischen verstorben. Und mein jüngerer Bruder ist mittlerweile geschieden und hat dadurch seine eigenen Probleme mit Freikirchen erlebt, denn auch das gilt dort teilweise als problematisch. Aber für mich war damals klar: Dieses Umfeld kann nicht mehr meine geistliche Heimat sein. Ich habe mich diskret zurückgezogen, weil ich nicht rausgeschmissen werden wollte.

Es gab Zeiten, wo dein Konflikt so gross war, dass du deinen Glauben in Frage gestellt hast. Verloren hast du ihn aber nie?
Nein. Zwischenraum hat mir den Weg gezeigt, wie ich ihn behalten kann. Ich habe dort entdeckt, dass es auch andere Sichtweisen auf das Thema gibt. Und das Bemerkenswerte: Heute können wir dafür teilweise sogar auf evangelikale Theologen zurückgreifen, die auf unserer Seite stehen. Die sich heute hochoffiziell entschuldigen und sagen, sie und die Kirche hätten im Umgang mit queeren Menschen grosse Schuld auf sich geladen. Es hat sich in den letzten 20 Jahren viel getan, heute gibt es Bücher und Podcasts, von denen ich damals nur träumen konnte.

Was hat das ausgelöst?
Sicher auch, dass queere Gläubige heute viel sichtbarer und präsenter sind. Nicht zuletzt durch unsere Arbeit bei Zwischenraum. Auch der öffentliche Diskurs zum Verbot von Konversionstherapien sowie die Ehe für alle verliehen uns grossen Schub.


Ihr helft beim Versöhnungsprozess von Glauben und sexueller Orientierung. Wie funktioniert das? Gibts dafür ein Patentrezept oder ist das sehr individuell?
Das ist völlig individuell und braucht immer viel Zeit. Man muss die Menschen dort abholen, wo sie stehen, jeder Hintergrund ist anders, jeder in einer anderen Situation. Zwischenraum will ein sicherer Hafen sein, wo man zur Ruhe kommen kann. Und dann im Austausch mit anderen einen Weg finden, theologisch und psychisch. Geliebt bist du dort, wo du sein kannst wie du bist – das ist für mich das Wesen von Zwischenraum.

Gelingt diese Versöhnung am Ende bei den meisten?
Ja, weil sie andere Facetten ihres Glaubens entdecken können. Aber gelegentlich werden Menschen von ihrem freikirchlichen Umfeld unter Druck gesetzt: Entweder wir oder Zwischenraum. Es kam auch schon vor, dass die Freikirche gewonnen hat, aber das ist eher eine Ausnahme.

Kommt es vor, dass jemand sich vom Glauben verabschiedet, um sich das Leben zu erleichtern?
Das habe ich so direkt noch nie erlebt. Zweifel am Glauben und Hadern mit Gott gibt’s aber durchaus, auch bei mir ab und zu. Auch dafür gibts Raum bei Zwischenraum.

Wie du versuchen es auch andere Evangelikale mit Konversionstherapien. Kennst du Fälle, wo Jugendliche von ihren Eltern zu sowas gezwungen wurden? Oder passiert das in der Regel freiwillig?
Zwang ist selten, es gibt aus der freikirchlichen Perspektive schlicht keine Alternative. Die Eltern wollen ja nur helfen, niemand will etwas Böses, und die Jugendlichen möchten ihre Homosexualität auch unbedingt loswerden. Sie wollen «normal» sein. Es funktioniert halt einfach nicht.

«Es hat sich in den vergangenen Jahren sehr viel getan, und auch viele Freikirchen bewegen sich in die richtige Richtung. Aber noch nicht alle.»

Einige Länder haben solche Therapien inzwischen verboten, auch die Schweiz überlegt sich das. Wie stehst du dazu?
Gespalten. Wie will man ein solches Verbot kontrollieren? Wann ist etwas Seelsorge, wann beginnt eine Konversionstherapie? Hinter verschlossenen Türen wird auch nach einem Verbot weiterhin einiges stattfinden. Sinnvoller ist aus meiner Sicht Aufklärungsarbeit. Zwischenraum will die Herzen der Menschen erreichen. Wir müssen so lang und oft unsere Geschichten erzählen, dass es irgendwann kein Verbot mehr braucht, weil unsere evangelikalen Geschwister eingesehen haben, dass solche Therapien Unsinn und schädlich sind. Damit gewinnen wir mehr als mit einem Verbot.

Alle drei grossen monotheistischen Religionen tun sich schwer mit queeren Menschen. Warum eigentlich?
Religion hatte schon immer ein schwieriges Verhältnis zur Sexualität generell. Körperlichkeit gilt immer als etwas Schmutziges. Hinzu kommt, dass für viele gleichgeschlechtlich liebende Menschen quasi ausserhalb der «Schöpfungsordnung» stehen, weil sie keine Kinder zeugen können.

Inzwischen jedoch ist das Spektrum im Christentum gross: Man findet von kompletter Akzeptanz bis zu radikaler Ablehnung so ziemlich alles. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis letzteres eine vernachlässigbare Minderheitsposition wird?
Es hat sich in den vergangenen Jahren sehr viel getan, und auch viele Freikirchen bewegen sich in die richtige Richtung. Aber noch nicht alle. Zwischenraum wird es wohl noch einige Zeit brauchen.

Queere Menschen sind so daran gewöhnt, die Religion als Feind wahrzunehmen, dass sie sich manchmal mit Gläubigen schwertun. Hast du solche Ablehnung auch schon erlebt?
Ja, wir haben darunter auch ab und zu gelitten in der queeren Welt. Wenn es hiess: «Hört doch auf mit eurem Glaubenszeug, das bringt doch nichts, die sind wie sie sind.» Aber es ist uns ein Herzensanliegen, diese Kreise zu erreichen. Und auch in der queeren Community ist ein Prozess in Gang gekommen. Zwischenraum wird heute ernstgenommen, wir sind integriert, und unser Bekanntheitsgrad ist merklich gestiegen.

Wie ist es gelungen, dieses gegenseitige Misstrauen abzubauen?
Man ist aufeinander zugegangen, hat geredet und einander zugehört. Das hat geholfen.


Queeramnesty engagiert sich unter anderem für queere Asylsuchende in der Schweiz, aber Geflüchtete haben es im aktuellen politischen Klima der westlichen Welt schwer – egal ob queer oder nicht. Bräuchten wir wieder mehr klassische christliche Nächstenliebe?
Oh ja, das wäre dringend nötig. Dass ausgerechnet diese Menschen mit ihrer schwierigen Vorgeschichte nun auch hier noch so viel Negatives erleben müssen, ist tragisch. Man kann nie genug Nächstenliebe zeigen.

Weihnachten gehört zu den wichtigsten Feiertagen für gläubige Christen. Wie verbringst du diese Zeit, was bedeutet sie dir?
Sehr viel. Ich liebe diese Zeit und freue mich auf das besinnliche Fest. Ich verbringe es im Kreise von Freund*innen.

Stört es dich, dass es für viele heute einfach ein Fest ist, mit freien Tagen, viel Geschenken, Essen und stimmungsvoller Dekoration?
Ich bedaure schon, dass daraus so ein riesiger Kommerz geworden ist. Dabei vermittelt der eigentliche Sinn von Weihnachten einige wertvolle Botschaften: Nächstenliebe, anständiger Umgang miteinander, mehr Bescheidenheit und weniger Luxus, Grossherzigkeit gegenüber den Armen und Vertriebenen. Ich denke, das sind Werte, die auch viele Nichtgläubige schätzen – und an denen man sich eigentlich das ganze Jahr hindurch orientieren kann.

Bilder/Illustrationen: Roland Weber/Paraskevi Chrysopoulidou