Der HBO-Dokumentarfilm «Welcome to Chechnya» porträtiert russische LGBTI*-Hilfsorganisationen, die bedrohte Queers undercover aus Tschetschenien schmuggeln. Er ist oft schwer zu ertragen – und dennoch ein Hoffnungsschimmer.

Sie treffen sich in einem Fast-Food-Restaurant in Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens. Die zwei russischen LGBTI*-Aktivistinnen tun so, als wären sie Freundinnen der Familie, als wollten sie mit der jungen Frau aus gutem Hause einfach nur einkaufen gehen. In Wirklichkeit haben sie einen elaborierten Plan, wie sie die 21-jährige Lesbe, die von der eigenen Familie mehrfach bedroht wurde, aus dem Land schmuggeln wollen, mit mehreren Teams, falschen Papieren und einer Übergangswohnung an einem sichereren Ort.

Dank des HBO-Dokumentarfilms «Welcome to Chechnya» sind wir mit dabei, wie sie statt zum Einkaufen zum Flughafen fahren. Dort bekommt die junge Frau neue Kleidung, neue Papiere, ihr Handy wird zerstört – und dann heisst es Schlange stehen für die Grenzkontrolle, die wacklige, versteckte Handkamera immer mitten drin. Nervosität und Angst sind greifbar; werden die Beamten sie durchlassen? Tatsächlich wird sie kurz gestoppt, muss eine Frage beantworten, darf dann aber passieren. Doch noch ist sie nicht sicher – ihre Familie könnte sie finden und zurückholen. Sie darf deshalb die Übergangswohnung «irgendwo in Eurasien» nicht verlassen, bis die Aktivist_innen Papiere zur Ausreise in ein sicheres, westliches Land arrangiert haben. Nicht mal für einen kleinen Spaziergang. Helfer_innen bringen regelmässig Lebensmittel vorbei.

Helfer_innen riskieren viel

Die Flucht der jungen Lesbe ist eines von mehreren tschetschenischen Schicksalen, in die das Publikum des Films einen kleinen Einblick bekommt. Es sind Geschichten von Gewalt, Angst und Trauer – Geschichten, von denen wir nur erfahren dank dieser Aktivist_innen, die all ihre Energie einsetzen, um bedrohte LGBTI* aus der russischen Teilrepublik im Kaukasus rauszuholen. Und die dabei selbst viel riskieren; eine der porträtierten Helferinnen muss später selbst flüchten, weil sie ihres Lebens und ihrer Freiheit in Russland nicht mehr sicher sein kann.

Seit 2017 werden LGBTI*-Menschen in Tschetschenien systematisch verfolgt, entführt, festgenommen, gefoltert – und wohl auch getötet. Einige junge Männer, die wieder freigelassen wurden oder entkommen konnten, erzählen im Film ganz offen, was sie in Gefangenschaft durchgemacht haben, wie sie gefoltert wurden, um Namen anderer Schwuler zu verraten. Sie alle hoffen, mit Hilfe der russischen LGBTI*-Organisationen in den Westen ausreisen zu können, um dort ein neues Leben zu beginnen.

Im Zentrum des Films steht unter anderem David Isteev vom Russian LGBT Network, der feststellen muss, dass es immer schwieriger wird, Papiere für eine Ausreise in ein sicheres Land zu erhalten. Doch mit Hilfe westlicher Partnerorganisationen gelingt es ab und zu. Und so erleben wir auch die Geschichte jenes jungen Schwulen mit, dank dem die Weltöffentlichkeit 2017 von den furchtbaren Ereignissen in Tschetschenien erfuhr: Maxim Lapunov. Er war das erste Opfer, das sich getraute, seine Erlebnisse vor den Medien zu erzählen. Maxim, sein Partner und seine Familie leben heute in einem anderen Land.

Da die Identität der Betroffenen geschützt werden muss, arbeitet der Film mit einem technischen Kniff: Wir sehen zwar die echten Geflüchteten, doch wurden ihnen mit Hilfe eines Spezialverfahrens andere Gesichter gegeben, die völlig echt wirken. Auch bei Lapunov wird lange so verfahren, bis zur grossen Medienkonferenz im letzten Viertel des Films, wo sein reales Gesicht enthüllt wird, da man es durch diesen Auftritt ohnehin kennt.

Keine Besserung in Sicht

Obwohl es inzwischen ausreichend Beweise für das kriminelle Vorgehen gibt, ändert sich nichts. Die aggressiv queerfeindliche tschetschenische Führung streitet alles ab, und die russische Regierung unter Wladimir Putin, die wohl als einzige eine Bestrafung der Täter und eine Verbesserung der Situation durchsetzen könnte, tut nichts. Umso bewundernswerter ist der Einsatz der russischen Aktivist_innen – ein kleiner Hoffnungsschimmer in der Finsternis. Dank ihnen gibt es nun tatsächlich über 150 Betroffene, die im Ausland eine Chance auf ein besseres Leben haben, 44 von ihnen in Kanada.

Doch längst nicht alle Geschichten führen zu einem Happy End. Die junge Frau vom Anfang hält es nach monatelangem vergeblichem Warten auf Ausreisepapiere in der Übergangswohnung nicht mehr aus und verlässt diese eines Tages. Sie hinterlässt einzig eine telefonische Nachricht für David Isteev: Alles sei in Ordnung, man solle sich keine Sorgen machen, sie werde sich melden. Doch das tut sie nicht. Was mit ihr passiert ist, bleibt am Ende des Films ungewiss.

Regisseur David France hat diesbezüglich erfreuliche Nachrichten. Er ist zugeschaltet, als «Welcome to Chechnya» Ende September am Zurich Film Festival gezeigt wird, und berichtet, dass die junge Frau wieder aufgetaucht ist. Zwar gebe es noch keine Lösung bezüglich eines Visums, aber sie sei sicher und nicht bei ihrer Familie. Zudem freut er sich, dass sein Film auch in Russland wahrgenommen wird – er schaffte es in den Filmcharts bis auf Platz 6.

» www.welcometochechnya.com

» www.pinkapple.ch (Filmvorführungen am Di 17.11.2020 um 18:30 und 21 Uhr)