Jacob Ellis Williams stammt aus Nicaragua und ist Aktivistin für Menschenrechte. Keine einfache Aufgabe – und auch keine ungefährliche. Zurzeit lebt sie im Exil in Costa Rica, Aussichten darauf, bald in ihr Heimatland zurückzukehren hat sie keine. Doch sie kämpft weiter. Für die Frauen, die LGBTI*-Community; für alle, die von der Regierung unterdrückt und bedroht werden.
Wie würdest du die aktuelle politische Situation in Nicaragua beschreiben?
Sie ist repressiv für alle andersdenkende Personen – Menschenrechte werden nicht respektiert. Die Bevölkerung wird überwacht und verfolgt. Das gilt vor allem für Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger sowie die LGBTQI*-Community.
Was sind die Auswirkungen für die Community?
Viele flüchten ins Exil. In Nicaragua herrscht ein sehr autoritärer Staat: Genderidentität und Menschenrechte werden nicht anerkannt oder respektiert. Zudem bleiben alle Verbrechen dagegen ungestraft, ein weiterer Grund, weshalb viele flüchten.
Gibt es bei dieser Diskriminierung auch einen religiösen Hintergrund?
Ja, Nicaragua ist ein sehr christliches Land, in dem religiöser Fundamentalismus herrscht und viele Vorurteile bestehen. Die Diskriminierung fängt meistens schon zu Hause an. Und was kann man in der Öffentlichkeit erwarten, wenn man schon zu Hause nicht akzeptiert wird? Die Gesellschaft ist nicht bereit, sexuelle Diversität anzuerkennen.
Was ist das Schlimmste, das du in letzter Zeit aus Nicaragua gehört hast?
Selbst seitens der Opposition wird niemand aus der LGBTI*-Community eingeladen, an den politischen Prozessen teilzunehmen. Das politische System beruht auf einem patriarchalen Modell. Die Opposition fordert zwar eine Rekonstruktion von Gerechtigkeit, aber die Realität ist, dass sexuelle Diversität weder von der Opposition noch der Regierung anerkannt wird. Das Schockierendste ist, dass dieser patriarchalische Kurs weitergeführt wird – und das macht auch müde.
Denkst du, dass sich diese Situation in den nächsten 10 Jahren ändert?
Um in einem repressiven Staat wie Nicaragua Veränderungen herbeizuführen, braucht es viel Durchhaltevermögen – ich fürchte für echten Wandel reichen 10 Jahre nicht aus. Nicht nur die Politik, auch die Einstellung der Menschen muss sich ändern. Vorurteile müssen abgebaut werden, es muss an Empathie und Respekt gearbeitet werden. Es braucht drastische Veränderungen im öffentlichen Raum wie im Privaten.
Aus welchem Grund lebst du im Exil?
Weil ich bedroht wurde. Ich bin Feministin, Aktivistin und kämpfe seit 20 Jahren für Menschen, deren Rechte verletzt wurden. Das mache ich im privaten ebenso wie im öffentlichen Bereich und stellte dabei immer auch das strukturelle System in Frage. Ich war schon immer politisch aktiv und auf der Strasse, um Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Es ist wichtig, Ungerechtigkeiten anzuklagen. 2019 musste ich ins Exil gehen, weil ich aufgrund meiner sexuellen Orientierung bedroht und überwacht wurde. Es ist eine Sache, von sowas zu hören und eine andere, es selbst zu erleben. Menschen, die in Nicaragua aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ins Gefängnis gesteckt werden, erleben dort sehr oft sexuelle Gewalt. Das wollte ich mir ersparen, deshalb habe ich das Land verlassen.
Wie fühlt es sich im Exil in Costa Rica an?
Bittersüss. Wir sind hier zusätzlich verletzlich, aber ich existiere und erfinde mich immer wieder aufs Neue. Es ist schwierig, weil es hier keine Möglichkeiten gibt zu arbeiten. Und man muss sich an eine Gesellschaft anpassen, an die man überhaupt nicht gewöhnt ist. Ich bin sehr dankbar, dass ich in Costa Rica leben kann, aber ich habe natürlich auch keine politischen Rechte, was die Situation als Aktivistin schwieriger macht. Aber wenn man Widerstand leistet, muss man auch resilient sein.
Kannst du auch von Costa Rica aus etwas erreichen?
Ich kann in meinem Umfeld etwas ändern, auch an der Einstellung der Leute. Obwohl ich hier keine Rechte habe, gibt es Möglichkeiten, Wandel herbeizuführen. Ich habe eine Gruppe gegründet, die sich gegenseitig und anderen Menschen in Not hilft. So kann ich weiterhin Akteurin des Wandels sein.
Würdest du nach Nicaragua zurückkehren, wenn es möglich wäre?
Alle, die aufgrund politischer Gründe im Exil sind und von dort aus Widerstand leisten, würden gerne zurückkehren. Die Voraussetzungen dafür sind aber momentan nicht gegeben. Solange meine Sicherheit nicht gewährleistet ist, kann ich als Aktivistin nicht wieder in Nicaragua leben.
Was tust du konkret, um den Leuten zu helfen?
Ich war schon immer eine Anführerin und bringe die Leute miteinander in Verbindung. So helfe ich etwa bei Migrationsfragen aus der LGBTQI*-Community, von indigenen Gemeinschaften und von Frauen, die im Exil sind. Ausserdem sammeln wir Lebensmittel, um jenen Menschen im Exil zu helfen, denen es schlecht geht. Und ich versuche Unterkünfte zu vermitteln für Menschen, die auf der Strasse leben müssen. Es sind Netzwerke im Exil entstanden, mit denen wir uns gegenseitig unterstützen.
Wie weit würdest du gehen, um jemandem zu helfen?
Wer weiss – bis dort, wo mich das Universum hinführt. Jedenfalls werde ich mich immer für soziale Anliegen einsetzen. Ich weiss, was es heisst, etwas zu haben und auch überhaupt nichts zu haben. Aus diesem Gefühl heraus lebe ich meinen Aktivismus aus tiefster Überzeugung. Und ich werde das machen, solange ich existiere, auch weil ich auf der Welt etwas hinterlassen will: Ich möchte mich stetig weiterentwickeln, wachsen und hilfreiche Netzwerke bilden. Als ein solcher Mensch sollen die Leute mich in Erinnerung behalten – mit diesem Humanismus.
Jacob Ellis Williams sprach im Rahmen des 40 Jahre Peace Brigades International (PBI) Jubiläumsfests über die Situation und Wahlen in Nicaragua.