Wie wirken sich die Corona-Restriktionen auf die von uns begleiteten queeren Asyl-Suchenden aus? Wir haben nachgefragt.

Seit dem Ausbruch der Coronavirus-Epidemie in China und deren weltweiter Ausbreitung sind erst wenige Monate vergangen, dennoch hat sich das Leben der meisten Menschen sehr verändert. Wir sind mit der Aussenwelt noch immer verbunden, aber fast alle Kontakte finden über das Internet und die sozialen Medien statt. In diesen für uns alle surrealen Zeiten wollten wir der Frage nachgehen, wie sich die Corona-Restriktionen auf die von uns begleiteten LGBTI*-Geflüchteten auswirken, wie sie diese Situation erleben und was sie daraus machen.

LOCKDOWN LIGHT

Ab dem 17. März 2020 war der vom Bundesrat verordnete «Lockdown light» in Kraft. Dabei wurden auch die Grenzen zu den Nachbarländern abgeriegelt. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat verkündet, keine Asylanträge mehr an der Grenze entgegenzunehmen. Die Schweiz ist für Flüchtlinge also nur noch über die grüne Grenze erreichbar. Verschiedene Organisationen im Menschenrechts- und Flüchtlingsbereich fordern die Sistierung der Asylverfahren, da die vom Bundesrat verordneten Massnahmen wie der physische Abstand bei den Anhörungen in kleinen Büros nicht eingehalten werden können. Zudem sind die Fristen für eine Beschwerde im neuen Asylverfahren viel kürzer, um aus dem Ausland zusätzliche Beweismittel oder Berichte beizubringen. Das ist derzeit besonders problematisch, denn auch in allen anderen Ländern führt das Coronavirus zur Verlangsamung, wenn nicht zum Stillstand von Abläufen. Eine Gruppe von Rechtsberater_innen weigert sich, unter diesen Umständen weiterhin bei den Anhörungen anwesend zu sein. Das SEM führt diese trotzdem weiter.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter sagte an einer Pressekonferenz des Bundesrates, die Rechtsberater_innen könnten, müssten jedoch nicht bei den Anhörungen dabei sein. Dafür würden die Beschwerdefristen von sieben auf 30 Tage verlängert. Das jedoch ist weder für die Asylsuchenden noch für die Rechtsberater_innen eine Lösung. Als Konsequenz wird wohl die Zahl der Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht erheblich zunehmen. Schliesslich setzte das SEM die Anhörungen nur kurz für eine Woche zwischen Ende März und Anfang April aus.

K. Bewegung tut gut: «Ich bin jetzt mehr in der Natur unterwegs – und vermisse meine Kollegen.»

STIMMUNGEN

«Ich bin schon nach zwei Tagen Lockdown depressiv drauf», berichtet M., der in einer Privatwohnung in einem kleinen Dorf im Kanton Baselland lebt. Drei Wochen später
hat sich der Ton verändert: «Ich gehe viel mehr raus in die Natur. Ich betrachte den Himmel und versuche positive Gedanken an die Welt auszusenden. Ich fühle mich sehr einsam. Zusammen mit meinem Bruder gedenke ich der mit dem Virus infizierten Menschen und der Menschen, welche jegliche Menschlichkeit verloren haben.» Sein Bruder K. vermisst die Arbeit in einem Beschäftigungsprogramm einer Brockenstube. «Ich bin einsam. Meine Kollegen kann ich nicht mehr treffen. Mein Arbeitsplatz ist mein soziales Netz. Ich sitze jetzt zu Hause herum und vermisse es, eine Tagesstruktur zu haben und einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen zu können.»

D. hätte gerade in einer Schule mit einem Intensivdeutschkurs beginnen können, als die restriktiven Regelungen in Kraft traten. Er schätzt es gerade in dieser Zeit besonders, sich in der freien Natur zu bewegen und nutzt seine Zeit für das Selbststudium der deutschen Sprache. Er liebt es, sich im Wald aufzuhalten. Picknick und Grammatikbuch sind seine ständigen Begleiter: «Es ist eine Freude, allein im Wald zu sein.»


D. 27 Jahre, aus der Türkei, seit einem Jahr in der Schweiz, lebt in einer Privatwohnung im Kanton Bern

M. u K. 26 bzw. 34 Jahre alt, Palästinenser aus dem Libanon, seit fünf Jahren in der Schweiz, leben in einer Privatwohnung im Kanton Baselland

J. 20 Jahre, aus Jamaica, seit Januar 2020 in der Schweiz, lebt in einem Bundesasylzentrum der Westschweiz

S. 23 Jahre, aus Uganda, seit Januar 2020 in der Schweiz, derzeit in einem Durchgangszentrum in der Westschweiz

V. 32 Jahre, aus Tansania, seit Oktober 2019 in der Schweiz, derzeit in einem Durchgangszentrum in der Nähe von Fribourg

A. 49 Jahre, aus Pakistan, seit vielen Jahren in verschiedenen europäischen Ländern als Asylsuchender unterwegs, lebt derzeit in einem Bundesasylzentrum der Deutschschweiz

E. 42 Jahre, seit zehn Jahren in der Schweiz, lebt zusammen mit ihrem kleinen Sohn in einer Privatwohnung im Kanton Bern


J. Nach 10 Tagen Quarantäne: «Bin glücklich, dass ich etwas zur Umwelt beitragen kann.»

GEDULDSPROBEN

Jetzt gilt: Warten. Warten auf nach Corona. Warten auf den Entscheid des SEM. Warten auf den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts. Einige warten schon seit Jahren auf ihre Entscheide. Warten auf einen Zahnarzttermin. Diese gibt es nur noch für Notfälle. Wer kein Notfall ist, wird mit Antibiotika und Schmerzmitteln nach Hause geschickt. Warten, dass der Deutschkurs, der Französischkurs wieder beginnen und sich die Klassen wieder mit den Lehrer_innen treffen und üben können. Einige Schulen führen ihre Kurse online weiter. Online lernen ist jedoch nicht für alle geeignet. Die wenigsten der Geflüchteten verfügen über einen Computer oder Laptop, und über den Handybildschirm ist es mühsam. Nicht alle wissen, wie man die verschiedenen Apps herunterlädt und bedient. Nicht alle sind mit einer der Sprachen vertraut, in denen die Apps angeboten werden.

E. ist auf die Weiterführung des Deutschkurses dringend angewiesen. Ihr Asylgesuch ist abgewiesen, ebenso ihr Wiedererwägungsgesuch. Die einzige Hoffnung, in der Schweiz zu bleiben, ist ein Härtefallgesuch an die kantonalen Migrationsbehörden. Dafür muss sie mindestens eine Beschäftigung von 50% und deutsche Sprachkenntnisse auf Niveau A1 nachweisen können. Der Wechsel vom Unterricht in der Klasse zum Online-Unterricht ist für die Verbesserung ihrer Sprachkenntnisse nicht förderlich. Schafft sie das von den Migrationsbehörden geforderte Sprachniveau nicht, wird das Härtefallgesuch abgewiesen. Das jedoch darf nicht passieren, denn sie hat es von den Behörden schon schriftlich, dass sie sonst mit ihrem kleinen Sohn, der nichts anderes als die Schweiz kennt, in ihr Ursprungsland ausgeschafft wird.

D. Deutsch lernen geht immer: «Es ist eine Freude, allein im Wald zu sein.»

BEHÖRDEN STEHEN NICHT STILL

Das SEM steht nicht still und fällt weiterhin auch negative Entscheide. So erhalten zwei von Queeramnesty begleitete Geflüchtete den Bescheid, dass sie aufgrund der Dublin- Regelung in ihr Erstasylland zurückkehren müssen. Bei J. reicht die Rechtsberaterin eine Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht ein. Zusammen mit Asile LGBT Genf und Rainbow Spot Lausanne schreiben wir von Queeramnesty einen Brief ans Bundesverwaltungsgericht und erläutern den Richter_innen die spezielle Verwundbarkeit, den prekären Gesundheitszustand des Geflüchteten und die grossen Risiken, die eine Rückschaffung ins Erstasylland für den erst 20-Jährigen bedeuten würden.

A., der andere Asylsuchende, welcher auch einen negativen Entscheid erhielt, hat aufgrund seines langen Aufenthalts in Europa keine Chance, in der Schweiz bleiben zu können. Seine Situation ist zusätzlich erschwert, da sein Augenlicht krankheitsbedingt stark beeinträchtigt ist und er sich draussen allein nicht fortbewegen kann. Er ist sehr auf praktische Unterstützung angewiesen. Eine kleine Hoffnung besteht darin, dass er bald am Zürcher Universitätsspital operiert wird und sich die Ärzt_innen von der Operation eine Besserung erhoffen. Die Ausweisung ins Erstasylland wird auf die Zeit nach Aufhebung des Lockdowns verschoben.

J., der im Januar 2020 in die Schweiz eingereist ist, lebt in einem Bundesasylzentrum und musste in die Quarantäne, da sein Zimmernachbar positiv auf das Coronavirus getestet worden war. Er selbst wurde zum Glück nicht angesteckt und kann nach zehn Tagen wieder unter die Leute. Er schätzt es besonders, sich nun wieder draussen in der Natur bewegen und seinen Kopf durchlüften zu können. Es macht ihn glücklich, wenn er zur Umwelt etwas beitragen kann.

In den Bundesasylzentren und den kleineren Durchgangszentren ist es praktisch unmöglich, den physischen Abstand von zwei Metern zu befolgen. «Die Abstandsregeln werden nicht eingehalten», sorgt sich S., der in einem Durchgangszentrum im Kanton Waadt lebt. Zu viele Menschen drängen sich in einem Raum, sei es beim Zubereiten der Mahlzeiten in den gemeinschaftlichen Küchen oder in den Ess- und Schlafräumen. Das überfordert alle Beteiligten, und es müssen rasch Lösungen gesucht werden. Bund und Kantone überlegen, aufgrund abnehmender Flüchtlingszahlen bereits geschlossene Flüchtlingsunterkünfte wieder zu reaktivieren.

«Bei uns allen wurde in den ersten zwei Wochen des Lockdowns das Fieber gemessen, aber jetzt schon nicht mehr», stellt V. fest. Sie lebt in einem Durchgangszentrum in der Nähe von Fribourg. «Ich passe mich an, nur so geht es.» Sie lässt sich durch die strikten Massnahmen nicht betrüben und nützt die Zeit, indem sie im Netz nach neuen Kochrezepten forscht und sich strikt an die Vorgaben zur Hygiene hält. «Ich bin meistens in meinem Zimmer, meine Zimmernachbarin ist nur selten da, und ich habe meine Ruhe.»

VERMISST WIRD …

Was alle vermissen: Die unmittelbaren Begegnungen mit den anderen Geflüchteten. Am Welcome Café in Zürich und am Safe Space in Bern hat man sich kennen- und schätzen gelernt. Der Austausch untereinander an diesen regelmässigen Treffen ist eminent wichtig. Es ist ein geschätztes Netzwerk, in dem man sich wohl fühlen kann und niemandem etwas erklären muss. Es vertreibt die Einsamkeit und schafft Vertrautheit. Hoffen wir, dass diese Treffen so bald wie möglich wieder stattfinden können.