JOHN IST WEGEN SEINER HOMOSEXUALITÄT AUS SEINER HEIMAT SIERRA LEONE IN DIE SCHWEIZ GEFLÜCHTET. DOCH AUCH HIER ERLEBT ER IM ASYLHEIM AUSGRENZUNG UND GEWALT. UND INZWISCHEN HAT SICH AUCH DIE HOFFNUNG ZERSCHLAGEN, IN DER SCHWEIZ BLEIBEN
ZU DÜRFEN.

John, wie er in diesem Beitrag genannt werden möchte, wird 1988 in der kleinen Stadt Kabala geboren. Beide Eltern fallen kurz nach seiner Geburt dem langjährigen Bürgerkrieg zum Opfer, so dass er heute keine Erinnerung mehr an sie hat. Als Waisenkind wächst er bis zum zwölften Lebensjahr bei einer Bauernfamilie auf. Danach nimmt er mit seinem ersten «Boyfriend» Reissaus und begibt sich auf eine lange Odyssee durch das von dauernden Konflikten erschütterte Sierra Leone. Der kleine westafrikanische Staat gilt als eines der am schlechtesten entwickelten Länder der Welt, die Armut ist gross, die Lebenserwartung gering.

Johns eigentliche Geschichte beginnt im Jahr 2010. Sierra Leone hat zu diesem Zeitpunkt den Bürgerkrieg hinter sich und befindet sich zaghaft im Wiederaufbau. Eine Gruppe von LGBTI*-Aktivisten versucht, einen Gesetzesentwurf zur Verbesserung der Lage von Homosexuellen im Parlament durchzubringen, und John engagiert sich bei der Organisation «Why Can’t We Get Married?», die mit Informationskampagnen und Demonstrationen in der Hauptstadt Freetown darauf aufmerksam machen will, dass es tatsächlich homosexuelle Menschen im Land gibt.

RISIKO VON LYNCHJUSTIZ
Die Gesetzeslage in Sierra Leone sieht bis heute für sexuelle Handlungen zwischen Männern eine lebenslängliche Gefängnisstrafe vor (für Frauen gilt dies nicht). Angesichts der Bedingungen in den Gefängnissen kommt dies der Todesstrafe gleich: Mitinsassen machen Schwulen das Leben zur Hölle, denn die Kultur des Landes ist stark homophob geprägt. Deshalb kommt das Gesetz auch kaum zur Anwendung, da jeder, der «auffliegt», gleich der Lynchjustiz zum Opfer fällt.
Die Bemühungen von «Why Can’t We Get Married?» verlaufen denn auch im Sande (wobei die Organisation auch heute noch unter dem Namen «Pride Equality» existiert, jedoch vorwiegend aus dem Ausland operiert). Und die Mitglieder der Organisation bekommen Repressionen zu spüren. John muss fünf Tage ins Gefängnis, wird dann allerdings wieder frei gelassen. Seine Schwester nimmt ihn ins Gebet und überzeugt ihn, von seinem Aktivisten-Dasein Abstand zu nehmen.

Stattdessen nimmt er eine Arbeit an. Zufall oder nicht: Sein Chef ist ebenfalls schwul, und die beiden führen eine Beziehung, von der allerdings niemand etwas weiss – bis zu jenem verhängnisvollen Tag im Herbst 2012, als die beiden durch einen Sicherheitsbeamten des Betriebs beim Sex erwischt werden. Dieser zeigt sie bei der Polizei an, welche die beiden auch gleich vorladen will. Glückerweise werden sie rechtzeitig gewarnt und flüchten ins Nachbarland Guinea.

Johns Chef und Freund finanziert ihm von dort aus einen Flug nach Paris. Da er jedoch keinen gültigen Pass besitzt, wird er mit einem geliehenen durch die Kontrollen geschleust. Sein Freund will einige Tage später nachreisen. Nach der Zollkontrolle in Guinea muss John den falschen Pass an den Besitzer zurückgeben. Bei seiner Ankunft in Paris – ohne Pass – wird er gleich verhaftet, und man will ihn zurückschicken. Doch er sagt, dass er Asyl wolle, wird daraufhin freigelassen, angewiesen, sich eine Unterkunft zu suchen und sich dann bei den zuständigen Behörden in Paris zu melden. Ein Landsmann gibt ihm für einige Tage Unterkunft und rät ihm, nicht in Paris Asyl zu beantragen, da hier die Chancen schlecht stünden. John besitzt zu diesem Zeitpunkt noch etwa 70 Euro, das reicht gerade für ein Ticket nach Genf, wo er im November 2012 Asyl beantragt. Seinen Freund und ehemaligen Chef hat er seit seiner Flucht nie mehr gesehen, er hat nicht mal mehr Kontakt zu ihm, da sein Handy auf der Flucht verloren ging.

Nach einem ersten Interview mit den Asylbehörden landet er in einer Flüchtlingsunterkunft in Rapperswil SG. Dort vertraut er sich den Betreuern an und bittet sie, ihm bei der Suche nach einer Organisation für Homosexuelle zu helfen. Stattdessen erntet er Gelächter und Spott, zudem verbreiten die Betreuer seine Bitte in der Unterkunft, worauf er zur Zielscheibe von homophoben Anfeindungen wird. Auch seine Konversion vom Islam zum Christentum kommt gar nicht gut an. Diese Tortur dauert drei Monate, dann wird er in ein Zentrum in Mols SG verlegt. Doch in Rapperswil hat er «seine Lektion» gelernt und schweigt künftig über seine Homosexualität.

Ein Jahr nach Ankunft in der Schweiz erfolgt das zweite Interview beim Staatssekretariat für Migration (SEM). Noch bevor er einen Entscheid vom SEM bekommt, wird er in eine neue Unterkunft in Schwarzenbach SG gebracht, in der er dreieinhalb Jahre wohnen wird. Hier bekommt er auch den ersten negativen Entscheid vom SEM. Man glaubt ihm nicht, dass er aufgrund seiner sexuellen Orientierung aus Sierra Leone geflüchtet ist, da er zu wenig über die dortigen Verhältnisse und Gegebenheiten Auskunft geben kann. Wie soll er auch? Seit dem Alter von 12 Jahren war er auf der Flucht oder lebte in den Auffanglagern von Freetown. Ein gesellschaftliches Leben hat er nie gehabt, sein einziger Bezug zur schwulen Welt waren die Aktivisten und Zufallsbegegnungen.

Seine Deutschlehrerin versucht, ein Wiedererwägungsgesuch zu stellen, fühlt sich aber schnell überfordert und sucht Hilfe für John. So entsteht der Kontakt zu Focus Refugees von Queeramnesty. Für John ein sehr wichtiger Moment. «Das erste Mal fühlte ich mich verstanden und konnte über meine Probleme reden.» Die Betreuer_innen von Focus Refugees organisieren sofort einen Anwalt, der das Wiedererwägungsverfahren einleitet.

TERROR IN DER ASYLUNTERKUNFT
Durch diese Hilfe empfindet John seine Situation nun «deutlich erträglicher». Er kann endlich offen über seine Gefühle sprechen – dies und der Kontakt zu anderen queeren Flüchtlingen helfen ihm, sein Schicksal besser zu ertragen. Materielle Unterstützung macht ihn unabhängiger, da er nun Fahrspesen erhält und so regelmässig auswärts zum Deutschunterricht fahren kann. In der Unterkunft bleibt er jedoch weiterhin ungeoutet. Die zehn Bewohner haben nur marginalen Kontakt untereinander und gehen ihre eigenen Wege.

Doch dann kommt jener verhängnisvolle Tag im Frühjahr 2014. Johns Mitbewohner durchsucht seinen Schrank, der sich nicht abschliessen lässt, und stösst dabei auf den Negativ-Entscheid des SEM, in dem er auch den Hinweis auf Johns Homosexualität entdeckt. Bisher hatte die Bewohner in der Unterkunft kaum etwas geeint, Johns Homosexualität wird nun für sie zum gemeinsamen Nenner. Es folgen Gespött und Anfeindungen für den «schwulen Christen», selbst vor physischer Gewalt schreckt man nicht zurück. Eines Abends fordert ein marokkanischer Mitbewohner ihn mit dem Messer in der Hand auf, vors Haus zu kommen, um allen zu zeigen, wie man mit Schwulen umgehen sollte. John gelingt es zu fliehen und seine Deutschlehrerin anzurufen, die sofort reagiert und die Polizei alarmiert. Diese erscheint kurz danach und verhindert Schlimmeres. Dem Marokkaner allerdings gelingt die Flucht. John verzichtet auf eine Anzeige, da er noch schlimmere Repressionen befürchtet, und so kehrt der Angreifer später ungeschoren ins Haus zurück. Die Leiterin der Asylunterkunft setzt sich für John ein und droht den Mitbewohnern im Falle weiterer Anfeindungen mit massiven Sanktionen. So lassen die anderen zumindest vordergründig von ihm ab. Aber nun ist er endgültig der Ausgestossene im Haus und fühlt sich keine Sekunde sicher.

Zurecht, denn es kommt noch schlimmer: Er erlebt nun auch noch sexuelle Gewalt. «Es war die schlimmste Zeit meines Lebens», sagt John. Einige der vordergründig homophoben Mitbewohner versuchen immer wieder, ihn zu sexuellen Diensten zu nötigen und drohen mit Gewalt, wenn er sich widersetzt. Davon hat er noch nie jemandem erzählt, aus Scham. Im Gespräch aber fasst er Mut – er will, dass diese Doppelmoral und die damit verbundene Pein für LGBTI*-Flüchtlinge publik wird.

NEGATIVER ASYLENTSCHEID
Im Januar 2017 erhält er den Entscheid, dass sein Asylbegehren endgültig abgelehnt wird. Zwar stellen die Behörden seine Homosexualität mittlerweile nicht mehr in Frage, argumentieren jedoch, es gebe keine Hinweise, dass das Gesetz gegen Homosexualität in Sierra Leone auch tatsächlich angewendet werde. Dass wegen dieses Gesetzes möglicherweise noch immer ein Haftbefehl gegen John besteht, wird in der Beurteilung nicht in Betracht gezogen. Ebenso wird ignoriert, dass das Gesetz gar nicht zur Anwendung kommen muss, da wegen der konservativ-homophoben Grundhaltung in Sierra Leone jedem Schwulen Gewalt und umfassende gesellschaftliche Ausgrenzung droht, so dass Betroffene alles daran setzen, sich nicht zu outen.

John lebt zur Zeit in einem Ausschaffungsheim im Kanton St. Gallen, und die Hoffnung, nicht nach Sierra Leone zurückgeführt zu werden, schwindet mit jedem Tag. Geblieben sind ihm ein schmales Kajütenbett, ein Viertel eines Klapptischs und ein kleiner Schaft für seine wenigen Habseligkeiten – sowie grosse Verzweiflung und Verletzung.

Auf die Frage, was er den Schweizer_innen als Botschaft hinterlassen möchte, meint er: «Ich will nur, dass man weiss, welches Martyrium ich als LGBTI*-Flüchtling in der Schweiz durchlebt habe und hoffe, dass es bald einen Bewusstseinswandel gibt, der nachfolgenden Flüchtlingen diese Form der Diskriminierung erspart.»