Tobias Humer vom Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich (Vimö) erzählt uns seine bewegende Geschichte, was ihn motiviert hat, einen Verein zu gründen, worin seine Arbeit besteht und was wir konkret machen können, um die Situation von Inter* zu verbessern. Vimö ist der erste Verein in Österreich, der sich für die Belange dieser diskriminierten Gruppe einsetzt.
WIE BIST DU ZUM VEREIN VIMÖ GEKOMMEN?
Ich habe ihn vor gut zwei Jahren mitbegründet. Vorher habe ich in Berlin gelebt und dort die Intersex-Bewegung kennengelernt, die über gute Selbsthilfestrukturen verfügt. Als ich nach Österreich zurückging, wurde mir bewusst, dass es hier immer noch nichts gibt. Ich hab dann den einzig geouteten Inter* kontaktiert – Alex Jürgen. Zwischen uns hat es gut gepasst, und so haben wir den Verein gegründet. Das war im Februar 2014.
WIE ARBEITET IHR?
Wir sind einerseits Selbsthilfeorganisation und veranstalten zwei bis drei Mal im Jahr grössere Treffen in wechselnden Städten. Mittlerweile haben wir Kontakt zu 30 Leuten. Andererseits formulieren wir politische Forderungen und versuchen diese umzusetzen; einerseits national, aber auch als Teil von Organisation Intersex International (OII) Europe auf europäischer Ebene. 2013 haben wir zudem die Plattform Intersex gegründet. Dort sind nicht nur Inter*-Personen aktiv, sondern solidarisch interessierte Menschen aus den verschiedensten Sparten. Das ist eine sehr fruchtbare Kooperation – ohne diese Plattform wäre in den letzten drei Jahren in Österreich nicht so viel weitergegangen.
UND WIE HAT DAS FUNKTIONIERT? SIND DIE LEUTE EINFACH AUF EUCH ZUGEKOMMEN?
Parallel zur Gründung von Vimö hat die Homosexuellen Initiative (HOSI) Salzburg die erste Stelle zu Inter* geschaffen und mit Gabriele Rothuber die erste Intersex-Beauftragte gefunden. Sie organisierte öffentliche Veranstaltungen. Über diese sind andere interessierte Menschen zusammengekommen. Es ist ziemlich schnell klar geworden, dass da viel Potenzial für Engagement vorhanden ist.
WIE VIELE LEUTE SEID IHR?
Bei Vimö sind wir zu viert, bei der Plattform ungefähr 15.
WAS SIND EURE ZIELE?
Unser allerwichtigstes Ziel ist die Durchsetzung des Rechts auf Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen, also dass die geschlechtsverändernden, nicht-konsensuellen Behandlungen aufhören. Das passiert immer noch! Wir kriegen es über die Selbsthilfe mit, obwohl es von den Ärztinnen und Ärzten bestritten wird. Gleichzeitig ist klar, dass unsere Definition von Intergeschlechtlichkeit, die sehr breit ist, von der Medizin nicht anerkannt wird. Die rechnet ganz Vieles nicht als Inter* und denkt deshalb gar nicht daran, die Behandlungsstandards zu überdenken.
Dann engagieren wir uns für die Durchsetzung von sonstigen Bürger- und Menschenrechten für uns intergeschlechtliche Menschen. Da geht es etwa um den Personenstand. Ein Mensch von unserem Verein kämpft gerade auf dem Rechtsweg um einen dritten Geschlechtseintrag.
Ausserdem fordern wir das Recht auf ein höchstmögliches Mass an Gesundheit und Information. Gerade die Aufklärung über die langfristigen Konsequenzen solcher Behandlungen fällt viel zu oft unter den Tisch! Es wird immer nur hervorgehoben: Es gibt eine schnelle Lösung. Man drängt die Menschen sehr in eine Richtung. Von Eltern hören wir immer wieder, dass sie nicht wirklich aufgeklärt wurden oder werden, was mit ihren Kindern langfristig passiert, wenn Keimdrüsen entfernt, kosmetische Operationen durchgeführt oder Hormontherapien begonnen werden: die ganze Geschichte mit Narbenbildung, Sensibilitätsverlust und anderen möglichen schwerwiegenden Folgen. Es wird nicht wirklich thematisiert.
Ansonsten wollen wir erreichen, dass das Thema von öffentlichen Stellen mehr angeschnitten wird, dass wir nicht weiter unsichtbar gemacht werden. Wie soll man als junger Mensch ein Gefühl dafür entwickeln, dass es okay ist, wie man ist, wenn sonst niemand in der Öffentlichkeit dazu steht?
WARUM TUN SICH DIE STAATEN SO SCHWER? IN DER SCHWEIZ ODER IN DEUTSCHLAND GIBT ES IMMERHIN EINDEUTIGE EMPFEHLUNGEN FÜR EIN VERBOT.
Ich glaube, es liegt daran, dass der öffentliche Druck noch nicht gross genug ist. Solange es in den Medien kein grosses Thema ist, hat es für die Politik auch keine grosse Priorität. Da müssen wir noch einiges mehr Aufmerksamkeit erzeugen, und auch Druck machen. Anderseits wird öfters – wie etwa in Deutschland – auf Empfehlung der Ethikkommissionen irgendetwas umgesetzt. In diesem Fall ist es eine Lösung, die nicht viel kostet und leicht umzusetzen ist, die aber de-facto nichts bringt bzw. sogar eher negative Auswirkungen hat.
DU MEINST DAS NICHT-EINTRAGEN-MÜSSEN BEI DER GEBURT?
Genau. Und es ist de-facto kein Nicht-Eintragen-Müssen sondern ein Nicht-Eintragen-Dürfen. Die Definitionsmacht bleibt bei der Medizin, weil die Mediziner_innen entscheiden, ob dieser Geschlechtseintrag offen bleibt oder nicht. Das ist ganz genau nicht, was wir wollen! Das Best-Practice-Beispiel ist Malta: Die Eltern lassen etwas eintragen, die operativen Behandlungen sind aber verboten, und das Kind oder der jugendliche Mensch kann sich später selbst entscheiden, welchen Geschlechtseintrag er oder sie haben möchte. Sich als erwachsener Mensch frei entscheiden zu können, das ist es, um was es geht. Die Definition über das Geschlecht darf nur beim Menschen selber sein und nicht bei irgendeiner anderen Stelle – sei es Medizin oder Recht oder Eltern.
FÜR DICH IST MALTA EIN VORBILD?
Auf jeden Fall! Die Ausweitung des Anti-Diskriminierungsschutzes auf Geschlechtsmerkmale war sehr gut. Wenn nämlich aufgrund von Geschlecht vor Diskriminierung geschützt wird, wird damit immer impliziert, dass Geschlecht nur binär ist. Wenn es aber dezidiert um Geschlechtsmerkmale geht, dann ist Inter* wirklich mitgemeint.
ES IST EBEN KEIN SPEZIELLES GESETZ FÜR INTER*. ICH WAR ÜBERRASCHT, DASS ES NICHT EINE DEFINITION VON GESCHLECHT GIBT, SONDERN DASS DAS OFFEN GEHALTEN WIRD.
Dieses Gesetz ist in sehr enger Zusammenarbeit mit der internationalen Intersex-Organisation OII und mit Trans*-Organisationen entstanden. Es war eine glückliche Sache, wie das passiert ist: In Malta gab es ein Intersex-Forum, an dem eine anwesende Ministerin für das Thema sensibilisiert werden konnte. Durch eine politische Veränderung sind linke Kräfte an die Macht gekommen und haben das Gesetz auch gleich umgesetzt. Das ist in grösseren Ländern sicher schwieriger, als in einem so kleinen Land.
ABER ES GIBT NUN EINE VORLAGE, DIE MAN FÜR ANDERE LÄNDER NUTZEN KANN.
Genau, sobald es einmal einen Gesetzestext gibt, kann man den leichter in andere Sprachen oder Kontexte übersetzen.
WEISST DU, WIE DIE SITUATION FÜR INTER* IN NICHT-WESTLICHEN LÄNDERN IST?
Die krasse Pathologisierung und die Behandlungskonzepte, die es seit den 50er-Jahren gibt, entwickelten sich in der westlichen Welt. Darum gibt es hier viele gemeinsame Kämpfegegen dieses medizinische Regime. In anderen Ländern gibt es diese Praxis in dieser Form nicht. Das heisst natürlich nicht, dass keine Diskriminierung stattfindet, aber die Probleme sind andere. Und es gibt auch in anderen Gesellschaften Genitalverstümmelung von Inter*-Menschen, weil sie nicht ins Bild passen. Gerade bei Frauen mit grossen Klitoriden wird schnell operiert, damit geheiratet werden kann. Aber es gibt mittlerweile auch viele Intersex-Organisationen in nichtwestlichen Ländern.
SEID IHR MIT DENEN VERNETZT?
Wir sind international stark vernetzt, da die Szene noch relativ klein ist und es in jedem Land nur eine Handvoll Aktivist_innen* gibt. Das ist auch sehr spannend für mich als Aktivist, weil es eben keine Bewegung ist, die in einem einzelnen Land so breit und divers ist, dass man nicht mehr über den Tellerrand hinausblickt.
Aber ich höre von Aktivist_innen* aus anderen Ländern auch, dass sich Inter*-Personen ganz oft diese medizinischen Behandlungen wünschen, weil sie eben aufgrund ihrer Geschlechtsmerkmale diskriminiert werden. Unser Ansatz ist hingegen, dass wir lieber die Gesellschaft verändern als die Körper. Aber wenn man so krasser Diskriminierung ausgesetzt ist, ist es natürlich nachvollziehbar, dass man darüber nachdenkt, sich selbst zu verändern, um ein leichteres Leben zu haben. Trotzdem ist es traurig. Auch hier geht es also um Beratung. Damit die Leute wissen, was ihre Entscheidung bedeutet und welche Folgen damit verbunden sind.
Es geht aber auch einfach darum, einen Stolz zu entwickeln – darauf, dass wir so sind, wie wir sind. Da ist noch ganz viel Entwicklungspotenzial! Nur über ein positives Selbstbild kann man ein gutes Leben haben. Unser Hauptziel ist die Verbesserung der Lebenssituation von intergeschlechtlichen Menschen. Es geht nicht nur darum, dass wir nicht medizinisch behandelt werden, sondern dass wir uns selber akzeptieren, annehmen, lieben können, wie wir sind. Das würde viel leichter, wenn Inter* in der Gesellschaft akzeptierter wäre und wenn es mehr positive Vorbilder gäbe.
WIE LIEF ES BEI DIR?
Ich kam 1988 auf die Welt und hatte mit einem Monat einen Leistenbruch. Bei dieser Operation sind die Ärzte draufgekommen: Da ist etwas anders, das ist kein normales Mädchen. Ich wurde im Krankenhaus als Sensation gehandelt. Meine Eltern haben sich sehr unwohl gefühlt mit dieser Behandlung und dem Zur-Schau-Stellen vor Student_innen. Sie haben dann beschlossen, mich nach Hause zu nehmen und als normales Mädchen aufzuziehen.
Das Problem war – was auch sehr häufig vorkommt –, dass meine Eltern es nicht geschafft haben, darüber zu reden. Es wurde tabuisiert, wurde ihr Geheimnis, und somit immer mehr auch mein Geheimnis. Ich habe sehr schnell verstanden und gesehen, dass mein Körper anders ist als der von anderen. In der Pubertät habe ich begonnen, immer mehr zu vermännlichen. Und ich hab sonst niemanden gesehen oder von jemandem gehört, der so ähnlich ist wie ich. Es gab für mich überall immer nur Männer und Frauen, Männer und Frauen, Männer und Frauen, ich war nicht da. Ich fühlte mich wie ein Monster. Daraus habe ich geschlossen, dass auf dieser Welt kein Platz für mich ist und wollte mich umbringen.
Nach dem Suizidversuch haben mich meine Eltern zum Hausarzt gebracht. Zwei Wochen später stand ich beim Chirurgen. Der hat mich gefragt, ob ich mein Leben als Mann oder Frau weiterführen möchte. Da war ich nicht einmal 15! Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das wäre, einen Geschlechtswechsel zu vollziehen, und er hat mir auch klar gemacht, dass es schwierig wäre, aus mir einen Jungen zu machen. Ich habe mich also fürs Mädchen entschieden. Nochmals zwei Wochen später hatte ich Kastration, Genitaloperation und wurde auf Östrogen gesetzt.
Einige Jahre habe ich versucht, diese Frau zu werden, zu sein, die ich da sein sollte. Irgendwann musste ich einsehen, dass das für mich nicht funktioniert. Ich bin nach Berlin gegangen und hab dort die Inter*Bewegung kennengelernt. Dann habe ich mit Östrogen aufgehört und mit Testosteron angefangen – und sehr schnell gemerkt, dass mir das sehr viel mehr entspricht.
Grundsätzlich kann man mit künstlichen Hormonen niemals ein so perfektes Gleichgewicht erreichen, wie es der Körper an sich hätte. Meine Zeugungsfähigkeit werde ich nicht wiedererlangen. Die ganzen Sensibilitätsstörungen und die Narben im Genitalbereich sind nicht immer leicht, aber mittlerweile geht es mir ganz gut. Ich bin auch schon länger in psychotherapeutischer Behandlung. Als ich jung war, habe ich nie therapeutische Unterstützung oder gute Beratung erhalten.
SPRICHST DU JETZT MIT DEINEN ELTERN DARÜBER?
Ich hab mit 19 erfahren müssen, dass sie das alles immer schon gewusst haben. Dass ich ein Leben lang angelogen wurde, das war ziemlich krass für mich. Aber sie gehen jetzt sehr offen damit um, unterstützen mich und meinen Verein. Man muss dazu sagen, dass auch sie von keiner Seite unterstützt wurden. Ich kann es trotzdem nicht ganz verstehen, wie sie damit umgegangen sind. Aber man kann nicht alles verstehen.
HAT DEIN AKTIVISMUS DIR GEHOLFEN, MEHR ÜBER DEINE GESCHLECHTSIDENTITÄT HERAUSZUFINDEN?
Ich habe dadurch gelernt, dass meine persönliche Leidensgeschichte kein Einzelschicksal ist, so wie es mir lange vermittelt wurde. Sondern dass meine Geschichte Teil einer viel grösseren Geschichte ist, die in unserer Gesellschaft passiert; und die einfach totgeschwiegen wird. Daraus ist meine persönliche Motivation entstanden, aktiv zu werden – anderen Menschen die Möglichkeit zu bieten, das zu erhalten, was ich durch die Intersex-Bewegung erhalten habe. Dabei mitzuhelfen, dass andere Menschen ihre Geschichte verstehen können, sie zu unterstützen, stark zu sein gegenüber diesen selbsternannten Autoritäten der Medizin.
WAS KANN MAN, WAS KANN ICH KONKRET MACHEN, UM DIE SITUATION VON INTER* ZU VERBESSERN?
Das Thema aufgreifen, darüber schreiben, darüber reden, Multiplikator_in* sein. Am besten die Forderungen im Kontakt mit Selbstvertretungsorganisationen aufgreifen: Nichts über uns ohne uns. Das ist immer ganz wichtig. Oftmals integrieren Organisationen das I in ihre LGBT-Arbeit und glauben dann, sie können für Inter* sprechen. Es gibt auch viele Organisationen, die im medikalisierten Kontext arbeiten und sich als Patient_innen-Kollektive verstehen. Das hat seine Berechtigung, aber wir empfehlen, mit menschenrechtsbasierten Organisationen wie OII zu arbeiten.
Das Interview fand am 19. Juni in der Rosa Lila Villa in Wien statt.