AM 25. NOVEMBER STIMMEN WIR DARÜBER AB, OB IN DER SCHWEIZ KÜNFTIG GESETZES- UND VERFASSUNGSARTIKEL GELTEN DÜRFEN, DIE VON DER SCHWEIZ ANERKANNTE INTERNATIONALE MENSCHENRECHTSSTANDARDS VERLETZEN. DIE «FREMDE RICHTER-» ODER «SELBSTBESTIMMUNGS-INITIATIVE» DER SVP WILL «SCHWEIZER RECHT» ÜBER VÖLKERRECHT STELLEN UND LETZTLICH ABKOMMEN KÜNDIGEN, FALLS SIE MIT ERSTEREM IN KONFLIKT STEHEN. WAS GEHT UNS DAS ALS QUEERE COMMUNITY AN UND WARUM SIND DIE MENSCHENRECHTE ALS TEIL DES VÖLKERRECHTS SO WICHTIG FÜR UNS?

Um das Wesen der Menschenrechte zu verstehen, reicht ein kurzer Blick auf die Entstehungszeit dieser Abkommen: 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Vorgängerorganisation der UNO ausgearbeitet. 1950 folgte die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) des Europarats. Die schrecklichen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust haben zur Erkenntnis geführt, dass für das menschliche Zusammenleben ein Mindestmass an Regeln notwendig ist. Minderheiten und die an ihnen verübten Gräueltaten standen dabei besonders im Fokus. Kurz: Um die Würde und das Leben von Minderheiten zu schützen – und dazu gehören bekanntlich auch queere Menschen –, braucht es die Menschenrechte.

Die Europäische Menschenrechtskonvention

Dass die Schweiz sich mit Menschenrechten schon immer schwer tat, zeigt sich exemplarisch daran, dass sie der EMRK erst 1974 beitrat. Einerseits weil sie das Frauenstimmrecht erst 1971 eingeführt hatte, andererseits weil sie auch bei aussergerichtlichen Zwangsinternierungen von Menschen, die sich gesellschaftlichen Normen nicht beugten oder psychisch beeinträchtigt waren, die in der EMRK geforderten menschenrechtlichen Standards nicht erfüllte. Und genau auf diese EMRK zielt die SVP-Initiative als Erstes, wie etliche ihrer Initianten immer wieder verlauten liessen: Sie wäre nicht mehr verbindlich, das Schweizer Bundesgericht dürfte die dort verankerten Menschenrechte nicht mehr berücksichtigen, ihre Kündigung wäre nur eine Frage der Zeit. Die Initiative zielt also nicht nur auf «fremde Richter» (im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist die Schweiz übrigens mit einer Richterin vertreten), sondern auf unsere eigenen Richter_innen – und damit auch auf weitere Grundpfeiler der Demokratie: Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz.

Menschenrechte sind das Fundament unseres freien und selbstbestimmten Lebens, die Garantie, dass wir so leben können, wie es uns am besten entspricht. Die EMRK verbietet etwa Folter oder Zwangsarbeit, garantiert Rechtssicherheit, Meinungsäusserungs- sowie Religionsfreiheit. Und sie schützt das Recht auf Privatleben sowie auf Nichtdiskriminierung. Werden diese Rechte verletzt, können die Betroffenen bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR klagen. Dessen Urteile verpflichten die Mitgliedstaaten immer wieder, mit Diskriminierungen Schluss zu machen.

Queere Beispiele

Ein paar Beispiele verdeutlichen, wie die EMRK auch die queere Community konkret schützt:

  • Dass die absolute, zweijährige Wartefrist («Alltagstest») in der Schweiz heute keine Voraussetzung für die Kostenübernahme einer Geschlechtsangleichung durch die Krankenkasse mehr ist, geht auf ein Urteil von 2009 zurück (Verletzung des Rechts auf Privatsphäre). 2017 hielt der EGMR in einem Urteil gegen Frankreich schliesslich weiter fest, dass Zwangssterilisationen und dauerhafte Veränderungen der äusseren Erscheinung von trans Menschen nicht zur Voraussetzung für die Anpassung des amtlichen Geschlechts gemacht werden dürfen – diese Eingriffe in die körperliche Integrität sind ebenfalls ein Verstoss gegen das Recht auf Privatleben. Dieses Urteil hatte auch Auswirkungen auf die Rechtsprechung von Schweizer Gerichten.
  • Gegenüber Italien stellte der Gerichtshof 2015 klar, dass das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt werde, wenn ein Land gleichgeschlechtlichen Paaren keinen Zugang zur Ehe oder zu einer ähnlichen Institution (z. B. Eingetragene Partnerschaft) gewährt. Dieses Urteil trug zur Einführung der Lebenspartnerschaft in Italien 2016 bei.
  • Das sogenannte «Propaganda»-Gesetz in Russland, das die positive Darstellung von Homosexualität in der Öffentlichkeit unter Strafe stellt, wurde 2017 vom EGMR kritisiert, da es gegen die Meinungsäusserungsfreiheit und das Diskriminierungsverbot verstösst.
  • Immer wieder hat der EGMR zudem die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit für queere Demonstrationen bekräftigt und eine Nichtgewährung derselben als diskriminierend befunden.
  • Zwischen 1981 und 2000 bedurfte es der Urteile des EGMR, um die bestehende Kriminalisierung männlicher Homosexualität in Irland, Grossbritannien und Zypern als Verstoss gegen die Achtung des Privat- und Familienlebens zu ächten.
  • Noch in den 2000er-Jahren gab es gegen verschiedene Staaten Urteile, welche die unterschiedlichen Schutzalter für hetero- und homosexuelle Handlungen als Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot und die Achtung des Privat- und Familienlebens anerkannten.
  • Der EGMR bekräftigte ausserdem in einigen Urteilen, dass die Religions- oder die Meinungsäusserungsfreiheit nicht dazu missbraucht werden dürfen, jemandem aufgrund der sexuellen Orientierung einen Rechtsanspruch zu verweigern oder zu Hass gegen sexuelle Minderheiten aufzurufen.

Diese Beispiele zeigen: Ohne den Schutz der Menschenrechte hätten wir weniger Rechte und Freiheiten, als wir heute haben. Um diesen Schutz auch in Zukunft sicherzustellen, sind wir darauf angewiesen, dass die Menschenrechte und damit die EMRK in der Schweiz weiterhin gelten.

Die Macht der Mehrheit

Menschen, die keine oder weniger Diskriminierung erleben und mehr Rechte haben, mögen denken, sie seien nicht so stark auf die Menschenrechte angewiesen und ihre eigenen Rechte seien bei dieser Abstimmung nicht tangiert. Wenn eine Mehrheit der Abstimmenden die Anti-Menschenrechts-Initiative also annähme, würde dies auf den ersten Blick nicht überraschen. Doch die Mehrheit hat nicht immer recht. Zu den Grundlagen der Demokratie gehört ein starker Minderheitenschutz. Und was genau verliert «die Mehrheit» eigentlich, wenn sie Minderheiten Grundrechte gewährt, also dieselben Rechte, die sie auch hat? Und was, wenn Mehrheitsangehörige plötzlich selbst in eine Situation geraten, in der sie auf die Grund- und Menschenrechte angewiesen sind?

Lasst uns diese Fragen mit vielen Menschen in unserem Umfeld diskutieren und ihnen erklären, wie wichtig die Menschenrechte gerade für uns queere Menschen sind – und dass wir deshalb am 25. November ein unmissverständlich deutliches Nein an der Urne brauchen. Vor allem aber nicht vergessen: Abstimmen gehen!


Quellen:
Kilian Meyer, Adrian Riklin (Hrsg.). 2018. Frau Huber geht nach Strassburg. Die Schweiz vor dem Gerichtshof für Menschenrechte. Zürich: infolink

amnesty.ch
humanrights.ch
tgns.ch
skmr.ch