Der russische Menschenrechtsaktivist David Isteev erzählte kürzlich am Queer-Talk «Verzaubert» in Zürich, wie er mit seinem Team gefährdete LGBTI*-Menschen aus Tschetschenien herausholt. Wir haben mit ihm über die Herausforderungen seiner Arbeit gesprochen, über die Folgen des Films «Welcome to Chechnya» und die zunehmend schwierige Lage in Russland.

 

David, die meisten Menschen kennen dich und deine Arbeit aus dem HBO-Dokumentarfilm «Welcome to Chechnya». Seid ihr noch immer im Einsatz, um queere Menschen aus Tschetschenien zu retten?

Ja, daran hat sich seit den Dreharbeiten im Jahr 2018 nichts geändert.

Hat die internationale Aufmerksamkeit geholfen, die der Film euch gebracht hat? Oder ist einiges auch schwieriger geworden?

Das Ziel des Films war, die Weltöffentlichkeit auf die Zustände in Tschetschenien aufmerksam zu machen und zu zeigen, dass diese Probleme real sind. Dass queere Menschen dort festgesetzt, gefoltert und manchmal gar getötet werden, dass sie Hilfe brauchen. Das ist uns gelungen, denke ich; wir konnten einen guten Einblick in unsere Arbeit geben. Es hat unsere Gruppe und mich selbst aber auch für die Behörden sichtbarer gemacht, was unsere Einsätze nicht unbedingt erleichtert. Die Aufmerksamkeit hat also positive und negative Effekte.

Kannst du das noch etwas genauer ausführen?

Positiv ist sicher, dass wir durch den Film zusätzliche Unterstützung aus der internationalen Gemeinschaft bekommen haben. Und dass die Zustände in Tschetschenien nicht so leicht wieder unter den Teppich gekehrt werden können. Auf der anderen Seite hat es sich negativ auf unsere eigene Sicherheit ausgewirkt – und damit indirekt auch auf die der Menschen, denen wir zu helfen versuchen. Wir müssen vorsichtiger sein, wenn wir Lesben oder Schwule aus Tschetschenien evakuieren, die Prozesse sind komplizierter geworden. Und wir müssen aufpassen, dass wir nicht auf fabrizierte Hilfsgesuche reinfallen, mit denen die Behörden versuchen, uns eine Falle zu stellen, um mehr über uns, unsere Vorgehensweise oder den Aufenthalt von bereits geretteten Leuten zu erfahren.

Die tschetschenischen Behörden haben den Film also auch gesehen und reagieren nun darauf?

Ja, es gab eine öffentliche und eine nicht-öffentliche Reaktion. In der öffentlichen behaupteten sie, das sei alles erlogen und nichts als ausländische Propaganda, um dem Land zu schaden. Nicht-öffentlich versuchen sie derweil, unsere Arbeit zu erschweren. Es gibt ab und zu Leute, die nur so tun, als ob sie in Gefahr sind – aber wir haben unsere Wege, solche falschen Hilferufe zu identifizieren. Gleichzeitig gibt es aber auch queere Menschen, die von den Behörden eingesperrt, gefoltert und nur unter der Bedingung freigelassen wurden, dass sie ihnen helfen, andere Schwule zu identifizieren und uns, unsere Verbündeten und unsere Arbeitsprozesse zu enttarnen. Sie sind also gezwungen, denen zu helfen, obwohl sie selbst Hilfe bräuchten.

Überwiegen am Ende die positiven oder die negativen Effekte des Films?

Wir waren uns der möglichen negativen Konsequenzen von Anfang an bewusst, dennoch war es uns wichtig, diese Geschichte zu erzählen. Ich bereue das nicht.

Hat der Film etwas verändert an der Situation von LGBTI*-Menschen in Tschetschenien?

Auf jeden Fall. Seit der Film 2020 herausgekommen ist, erhalten wir keine Nachrichten mehr von Massenverhaftungen aus Tschetschenien. Er hat auch die queeren Menschen dort für das Thema sensibilisiert – sie realisieren, dass das, was sie erleben, nicht normal ist. Einige hat es ermutigt, offener aufzutreten und dieses Verhalten der Behörden zu bekämpfen. Das zeigt sich etwa an zwei Schwulen, die derzeit dort im Gefängnis sitzen und trotz aller Risiken zu ihrer Sexualität stehen. Das ist eine Veränderung, die bis vor kurzem noch schwer vorstellbar war.

Der Film hat also einige Queers ermutigt, aber wenig verändert am Verhalten der Behörden?

Das System in Tschetschenien ist äusserst korrupt. Häufig passieren diese Entführungen und Folterungen auch schlicht, um Geld von den Opfern oder ihren Familien zu erpressen. Wer ein halbwegs friedliches, sicheres Leben führen will, muss dafür bezahlen. Und es kann alle treffen, die in irgendeiner Form von der Norm abweichen, neben LGBTI*-Menschen etwa auch Nicht-Muslime oder Atheisten. Es ist ein systemisches Problem im Land.

Ist aus all dem gar eine queere Bewegung vor Ort entstanden, die versucht, Dinge zu verändern?

Nein, soweit ist es noch nicht. Aber es gibt Formen von Gemeinschaft und gegenseitiger Unterstützung. Darunter auch anonymisierte geschlossene Social-Media-Gruppen für LGBTI*. Jene, die sich dort bewegen, wissen nicht, wer sich tatsächlich hinter diesen Pseudonymen befindet. Aber es kommt vor, dass die Admins dieser Gruppen ihre Mitglieder vor gewissen Gefahren warnen, etwa wenn sie von Verhaftungen erfahren oder von kompromittierten Social-Media-Konten.

David Isteev (40) leitet die North Caucasus SOS Crisis Group, die sich seit 2017 darum bemüht, gefährdete LGBTI*-Menschen aus Tschetschenien zu retten und anderswo in Sicherheit neu anzusiedeln. Der frühere russische Investigativjournalist und TV-Produzent kam durch einen Freund zu seiner aktuellen Aufgabe und verdient auch seinen Lebensunterhalt damit. Er lebt zumindest teilweise in Russland; mehr will er aus Sicherheitsgründen nicht über sich und seine Situation verraten. Infos und Spenden: https://sksos.org/en oder direkt via PayPal.

 

Wie viele Menschen konntet ihr schon aus Tschetschenien holen?

Rund 300 in knapp fünf Jahren.

Im Film heisst es, dass die meisten in Kanada eine neue Heimat finden.

Damals war das so, aber die Situation hat sich verändert. Die meisten Leute kommen heute woanders unter, aber ich kann dazu aus Sicherheitsgründen nichts Genaueres sagen.

Wie schwierig ist es, Länder davon überzeugen, diese Menschen aufzunehmen?

Sehr schwierig, und es wird je länger je komplizierter. Viele Länder nehmen grundsätzlich keine Geflüchteten auf, anderen reicht auch der Beweis von Folter noch nicht, um Menschen als Flüchtlinge zu akzeptieren. Die Corona-Pandemie hat die Situation natürlich auch nicht erleichtert.

Könntet ihr mehr Menschen retten, wenn es mehr Länder gäbe, die sie aufnehmen?

Das kann man so nicht sagen. Wir schauen das immer von Fall zu Fall an: Wie ist die Lage? Welcher Art ist die Verfolgung? Wird sie auch in Zukunft anhalten? Manchmal reicht es, die Leute nach Moskau oder St. Petersburg in Sicherheit zu bringen. Manchmal müssen wir einen Platz im Ausland finden. Und wir helfen nicht nur bei der Flucht, sondern auch bei der Neuansiedlung, beim Einleben und der Jobsuche in der neuen Heimat. Einigen helfen wir zusätzlich bei den Sicherheitsvorkehrungen, denn es kommt ab und zu vor, dass es Entführungsversuche gibt, um sie nach Tschetschenien zurückzubringen. Solche Vergeltungsaktionen gibt es insbesondere, wenn Geflüchtete im Nachhinein noch Beschwerden oder Klagen in Tschetschenien einreichen. Dann können auch Verwandte im Land ins Visier der Behörden geraten. Viele der Geflüchteten müssen sich selbst in einem vermeintlich sicheren Drittland noch vorsehen und verstecken.

Es ist jedes Mal eine Freude zu erleben, wie die Menschen, die wir aus Tschetschenien rausholen, in ihrer neuen Umgebung aufblühen und aller schlimmen Erlebnisse zum Trotz die Chance auf ein neues, besseres Leben nutzen.

Habt ihr auch schon versucht, jemanden in der Schweiz unterzubringen?

Nein. Wir waren unter anderem auch mit Schweizer Behörden im Gespräch, spürten jedoch seitens der Schweiz keine Bereitschaft für solche Aufnahmen. Aber es gibt ein paar  tschetschenische LGBTI*-Menschen, die auf anderem Weg in die Schweiz gekommen sind – eine der ersten direkten Zeugenaussagen über die schlimme Vorgänge in Tschetschenien erhielten wir 2017 von dort.

Wie finanziert ihr eure Arbeit?

Zu Beginn war unser Budget sehr klein – und schnell aufgebraucht. Dank des Films kamen viele neue Spenden, von Privatleuten aber auch von Stiftungen und anderen internationalen Institutionen. Die Finanzierung ist heute deutlich stabiler als zuvor, aber die Arbeit kostet viel und vorauszuplanen bleibt schwierig, weil wir es in Tschetschenien mit einer anhaltenden Notfallsituation zu tun haben. Es kann jederzeit passieren, dass wir statt 25 Hilfsanfragen plötzlich 100 haben.

Du begibst dich mit dieser Arbeit auch selbst in Gefahr. Was unternimmst du alles für deine persönliche Sicherheit?

Eine Menge, es ist Teil des Jobs. Unsere Arbeit und die Sicherheit unserer Schützlinge hängen davon ab, dass wir selbst sicher sind. Ich reise nur noch wenig, bewege mich kaum in den sozialen Medien, gebe meine Aufenthaltsorte und persönliche Lebenssituation nur zurückhaltend preis.

Was treibt dich an, diese Arbeit trotz aller Risiken zu machen?

Es hilft, wenn man Aufregung und Adrenalinschübe mag. (lacht) Und es ist jedes Mal eine Freude zu erleben, wie die Menschen, die wir aus Tschetschenien rausholen, in ihrer neuen Umgebung aufblühen und aller schlimmen Erlebnisse zum Trotz die Chance auf ein neues, besseres Leben nutzen. Das mitzuerleben, gibt mir immer wieder neue Motivation. Ausserdem erhoffe ich mir, dass wir mit unserer Arbeit dazu beitragen können, dass jene Leute, die verantwortlich sind für all das Leid, irgendwann die Konsequenzen tragen müssen. Letztlich will ich Ramsan Kadyrow, den Präsidenten Tschetscheniens, hinter Gittern sehen. Aber das ist vielleicht eine naive Hoffnung.

Auch in Russland wird die Situation für queere Menschen und Menschenrechtsorganisationen schwieriger. Könnt ihr noch ohne Probleme arbeiten?

Die Lage für die Zivilgesellschaft in Russland wird tatsächlich immer schlimmer. Kürzlich wurde sogar die Organisation Russian LGBT Network als «ausländischer Agent» gebrandmarkt, ebenso wie andere kleinere queere Organisationen im ganzen Land. Unsere Gruppe funktioniert unabhängig von allen diesen Organisationen, was uns im Moment noch einen gewissen Schutz bietet. Aber es ist klar, auch wir müssen mit Schwierigkeiten rechnen, deshalb ist es immer wichtig, auch noch einen Plan B und einen Plan C zu haben.

Wie lebt man derzeit als LGBTI* in Russland?

Im Zuge der politischen Entwicklung der letzten Jahre versuchen mehr und mehr, das Land zu verlassen. Viele haben wenig Hoffnung, dass sich die Lage in Russland für sie in näherer Zukunft wieder bessert. Viele sind verängstigt, und die Zahl der Anfragen über Auswanderungsmöglichkeiten ist stark gestiegen.

Kann man denn als Lesbe oder Schwuler wenigstens in grossen Städten wie Moskau oder St. Petersburg noch halbwegs normal leben?

Es ist dort noch immer etwas sicherer als anderswo im Land, wenn man mit seinem Aussehen oder seinem Lebensstil von der Norm abweicht. Aber ein freundliches Klima für LGBTI*-Menschen herrscht auch dort nicht.

Laut der russischen Regierung gibt es zwei Schuldige, weshalb es dem Land und den Menschen nicht besonders gut geht: den Westen und die Schwulen.

Weshalb tut man sich in Russland so schwer mit queeren Menschen?

Das hat viel mit Politik zu tun. Laut der russischen Regierung gibt es zwei Schuldige, weshalb es dem Land und den Menschen nicht besonders gut geht: den Westen und die Schwulen. Das wird den Leuten tagtäglich eingehämmert, es soll sie von den wahren Gründen ablenken: Korruption, manipulierte Wahlen, fatale politische Entscheidungen. Natürlich heisst das nicht, dass alle der Regierungspropaganda glauben – besonders junge Menschen, die via Internet besseren Zugang zu unabhängigen Informationen haben, können sich diesen Vorstellungen entziehen. Aber wenn sie allzu offen protestieren oder gar demonstrieren, landen sie hinter Gittern. Russische Menschen gelten als sehr geduldig. Doch irgendwann wird diese Geduld enden.

Sind die Gründe für die Ablehnung von LGBTI* in Tschetschenien dieselben? Oder spielen Kultur und Tradition dort eine grössere Rolle?

Auch dort werden Kultur und Tradition primär aus politischen Gründen vorgeschoben. Historisch stand der Islam sexuellen Beziehungen zwischen Männern sogar recht entspannt gegenüber. Und unter dem vorherigen Regime in Tschetschenien blieben schwule Männer vergleichsweise unbehelligt. Die Probleme begannen erst unter Kadyrow. Es geht schlicht um Machtpolitik. Die eigenen Bürgerinnen und Bürger zu verängstigen, ist der einzige Weg für ihn, an der Macht zu bleiben.

Was können wir im Westen tun, um zu helfen?

Sicherstellen, dass die Aufmerksamkeit für diese Ereignisse nicht nachlässt. Denn darauf wartet das Regime in Tschetschenien. Solange die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft da ist, wird es nur zurückhaltend agieren. Je mehr Leute Bescheid wissen, darüber sprechen, auf sozialen Medien anklagen, desto besser für LGBTI* in Tschetschenien. Ausserdem müssen wir sicherstellen, dass die Geflüchteten sicher sind – denn nur wenn sie in Sicherheit sind, können sie von ihrem Leid und all den Grausamkeiten berichten, die ihnen widerfahren sind. Diese Zeugenaussagen sind enorm wertvoll, sie haben politische Wirkung und führen zu wertvoller Unterstützung für unsere Arbeit.

Das Gespräch wurde noch vor dem Ukraine-Krieg mit Hilfe einer Dolmetscherin auf Englisch und Russisch geführt.