In einigen Ländern sind Konversionstherapien bereits verboten, in der Schweiz wird darüber noch diskutiert. Mäth Gerber und Renato Pfeffer haben jahrelang erfolglos versucht, ihre Homosexualität zu «heilen» – inzwischen konnten sie ihren Glauben und ihre sexuelle Orientierung miteinander versöhnen.
Beide sind in frommen, freikirchlichen Familien aufgewachsen, beide haben zehn Jahre lang vergeblich versucht, ihr als Krankheit empfundenes Schwulsein wegzutherapieren. Beide haben schliesslich einen Weg gefunden, mit ihrer sexuellen Orientierung zu leben, ohne ihren Glauben aufzugeben – und arbeiten nun daran, die kirchlichen Institutionen und ihre Gläubigen zu liberalisieren.
Renato Pfeffer (37) ist heute Jugendpfarrer bei der reformierten Landeskirche in Horgen, Oberrieden und Thalwil; ausserdem arbeitet er im Sekretariat der EVP des Kantons Zürich und ist zuständig für die Ressorts Sicherheit und Einwohnerwesen im Gemeinderat von Richterswil, wo er auch wohnt. Mäth Gerber (43) lebt in Bern und ist selbstständiger Trainer für Auftritts- und Verhaltenskompetenz sowie Event- und TV-Moderator; zudem ist er Worship-Leiter bei einer Gemeinde der evangelisch-methodistischen Kirche. Beide hatten inzwischen Beziehungen mit Männern, sind derzeit jedoch single. Im Gespräch wirken sie sehr reflektiert und entspannt, mit sich im Reinen – doch es war für beide ein langer Weg dahin.
Renato Pfeffer heute
Renato Pfeffer realisierte als Teenager, dass er sich für Männer interessiert. «Aber ich wusste, dass die Bibel dies ablehnt – umso erleichterter war ich, als ich in einem Buch las, dass Homosexualität therapierbar sei.» Er war 17, als er im Jahr 2002 seine Therapie begann – und ging in seinem religiösen Umfeld offen damit um. «Ich erzählte nahestehenden Personen, dass ich schwul bin, aber daran arbeite, dies zu verändern.» Damit sicherte er sich nicht nur das Wohlwollen seiner religiösen Familie und Freunde. «Ich galt sogar als Vorbild, denn ich widerstand der Versuchung und bemühte mich um Veränderung.»
Bei Mäth Gerber lief es sehr ähnlich. Nachdem er sich als Teenager in seinen besten Freund aus der freikirchlichen Jugendgruppe verliebt hatte, gestand er sein Schwulsein eines Abends zu Hause seiner Mutter. «Wir sassen beide weinend auf dem Sofa, als mein Vater heimkam und natürlich ganz besorgt war. Meine Mutter sagte ihm dann, dass ich schwer krank sei.» Aber auch Mäth entdeckte, dass es offenbar Wege gab, die vermeintliche Krankheit zu besiegen. Er begann seine Therapie 1999, mit 20 Jahren, wohlwollend unterstützt von seinem religiösen Umfeld. «Es gab aber auch ein paar, die das mit dem Schwulsein okay fanden, mir sagten, das sei doch gar nicht so schlimm. Von denen hielt ich Abstand, denn ich wollte das ja wieder loswerden.» Diese Hoffnung wurde nicht nur durch sein religiöses Weltbild genährt, sondern auch weil er damals unbedingt Kinder wollte.
Kein Zwang, keine Drohungen
Beide Männer sagen, sie seien aus freien Stücken in die Therapie gegangen. «Es gab keinen Zwang, keine Drohungen, keinen Druck», betont Renato. Sie räumen jedoch auch ein, dass sie in einem Weltbild und einem Umfeld lebten, durch das sie indirekt unter Druck standen. Laut einer Studie aus Kanada kommen rund 10 Prozent aller queeren Menschen mit Konversionstherapien in Kontakt, wobei rund zwei Drittel dieser Therapien im freikirchlichen Milieu stattfinden. Mäth und Renato halten diese Zahlen für plausibel. «Ich vermute allerdings, dass es eher mehr als zwei Drittel sind», sagt Mäth.
Bei ihm bestand die Therapie vor allem aus Gesprächen mit wechselnden Therapeut*innen, alle mit christlichem Hintergrund. «Einige waren überzeugt, dass sich das heilen lässt, andere machten keine allzu konkreten Versprechungen und sagten, dass es bei einigen gelinge, bei anderen nicht.» Renato war nur bei einem Therapeuten, wurde aber bei der Arbeit an sich selbst von Freunden zusätzlich unterstützt. «Die These bei mir war, dass ich von meinem wenig präsenten Vater zu wenig Liebe bekommen hatte und diese nun bei anderen Männern suche. Ich sollte deshalb versuchen, enge, nicht-sexuelle Freundschaften mit Männern aufzubauen, um dieses Bedürfnis so zu stillen.»
Bei Mäth war die Erklärung eine andere: Weil er in der Schule von anderen Jungs heftig gemobbt wurde und dadurch viel Ablehnung erfahren hatte, suche er nun die Zuneigung anderer Männer. «Und natürlich sollte ich auch mit Mädchen an romantischen Orten Zeit verbringen, in der Hoffnung, es rege sich irgendwann mal was.»
Weinen, beten, Suizidgedanken
Tat es jedoch bei beiden nie. Jahrelang bemühten sie sich vergeblich, führten teilweise ein Doppelleben. «Ich kniete nächtelang betend neben meinem Bett und weinte und flehte, Gott solle mich davon befreien», erzählt Renato. «Ich habe sehr gelitten.» Mäth hatte zwischenzeitlich Affären mit Männern und schliesslich sogar Suizidgedanken. «Plötzlich erschien mir das wie der einzige Ausweg. Wenn ich das Schwulsein nicht wegbekomme, das Schwulsein aber vor Gott vermeintlich nicht geht, dann wäre mein Verschwinden doch die Lösung.» Soweit kam es jedoch nicht – wohl auch, weil Suizid in christlichen Kreisen als mindestens so problematisch gilt wie Homosexualität. Mit 27 verbrachte Mäth drei Monate in einer psychiatrischen Klinik, weil ihm die Probleme in verschiedenen Lebensbereichen über den Kopf wuchsen, ein Burnout. «Danach ging es mir besser, aber das Schwulsein blieb natürlich.»
Mäth Gerber heute
Ihr Leiden entstand primär aus dem Grunddilemma, dass nicht sein durfte, was war. Die Therapien selbst verschlimmerten die Situation nicht, sagen die Männer heute. Gelegentlich verschaffte es ihnen sogar Erleichterung, ihre Nöte mit den Therapeut*innen besprechen zu können. «Sie waren ehrlich bemüht zu helfen, es gab keinen bösen Willen», sagen beide. Doch ist ihnen niemand bekannt, bei dem eine solche Konversionstherapie jemals den erhofften Erfolg gebracht hätte. «Einige haben es behauptet, wurden früher oder später aber doch wieder mit Männern erwischt. Andere leben vielleicht mit Frau und Kindern zusammen, haben aber kein erfülltes Sexleben oder treffen sich heimlich mit Männern. Andere waren eh immer eigentlich bi – und leben eine Seite halt nicht aus.»
Rentao und Mäth mühten sich, mit Unterbrüchen, zehn Jahre lang ab. Kamen irgendwann zum Schluss, dass ihre Gefühle wohl nicht weggehen – und fokussierten somit auf Plan B: sie nicht auszuleben. Doch auch das erwies sich als schwierig. Bis sie beide ein Schlüsselerlebnis hatten, das alles änderte. Renato lernte im Sport an der Uni Zürich einen Mann kennen, der ebenfalls aus einer Freikirche stammte und ihm eines Tages eröffnete, er sei schwul. «Er brachte mich mit anderen seiner Freunde in Kontakt, und ich lernte zum ersten Mal andere Schwule kennen. Die dann gar nicht so waren, wie das in unseren Kreisen propagiert wurde: Sie nahmen nicht alle Drogen oder hatten dauernd Sex mit wechselnden Partnern.» Vor allem aber: Sie waren gläubig und queer – und lebten beides, teils sogar in glücklichen Beziehungen.
Zwiespalt zwischen Queersein und Religion überwunden
So lernte Renato auch die Organisation Zwischenraum kennen, eine Gruppe für Menschen, die im Zwiespalt zwischen Queersein und Religion leben, und die ihnen dabei hilft, diese beiden Seiten miteinander zu versöhnen. Es eröffnete sich ihm plötzlich eine ganz neue Welt. «Ich begann, meine bisherige Haltung zu hinterfragen, vertiefte mich auch theologisch nochmals neu in das Thema.» Und nach und nach begann er, seine Homosexualität zu akzeptieren.
Bei Mäth lief es anders. «Ich bekam ein Zeichen von Gott, dass meine Homosexualität okay ist.» Dies passierte während eines einjährigen Aufenthalts in einer Bibelschule. Dort kam er mit dem Schulleiter ins Gespräch, der dem Thema offener gegenüberstand als andere. «Ausserdem hatte ich in der Zeit mehrmals Träume von einer glücklichen Partnerschaft mit einem Mann.» All dies waren für ihn Signale, dass Gott ihm mitteilen wollte: «Hey, es ist okay, ich liebe dich so, wie du bist.» So begann auch für ihn der Prozess zur allmählichen Akzeptanz.
SRF-Dok über Konversionstherapien in der Schweiz (unter anderem mit Mäth Gerber).
Für ihr Umfeld war diese Neuorientierung nach so vielen Jahren nicht leicht. Beide haben Freunde verloren, aber auch recht viele behalten. Selbst ihre Eltern und Geschwister haben es schliesslich akzeptiert. «Mein Bruder ist Pastor einer Freikirche», erzählt Mäth. «Er thematisiert das dort regelmässig und ziemlich offensiv.» Sein Vater ringe noch ein bisschen, aber als Mäth während mehrerer Jahre in einer Beziehung lebte, war sein Freund bei seinen Eltern willkommen, geliebt und wurde ganz selbstverständlich auch an Familienfeiern eingeladen.
Renato hingegen hat sich von der Freikirchenwelt verabschiedet – fast jedenfalls. «Ich bin immer noch Mitglied in meiner ursprünglichen Gemeinde, wo ich früher lange aktiv gewirkt habe. Sie fragen mich immer mal, ob ich nicht endlich austreten will, aber den Gefallen tue ich ihnen nicht. Solange ich dabei bin, müssen sie sich mit dem Thema auseinandersetzen.» Theologisch jedoch hat er bei der Landeskirche eine neue Heimat gefunden, die dem Thema schon länger offen gegenübersteht. Die reformierte Kirche des Kantons Zürich hat mit Priscilla Schwendimann sogar eine Pfarrerin, die offiziell für LGBTQI*-Anliegen zuständig ist, selbst mit einer Frau zusammenlebt und ebenfalls ursprünglich freikirchlich aufgewachsen ist.
Auch bei den Freikirchen bewegt sich was
Auch Mäth Gerber und Renato Pfeffer arbeiten daran, die Welt der christlichen Gläubigen von innen heraus zu liberalisieren. «Es ist einiges in Bewegung. Ich würde sagen, die Freikirchen hinken der Gesellschaft noch so zehn bis zwanzig Jahre hinterher», meint Renato. «Aber sie holen langsam auf.» Einige Freikirchenpastoren seien persönlich eigentlich längst weiter und hätten gar keine Probleme mehr mit Homosexualität, sagt Mäth. «Aber diese Kirchen sind auf Mitglieder und Spenden angewiesen – und wenn sie ihre Haltung in dieser heiklen Frage allzu abrupt ändern, riskieren sie, dass Leute zu anderen Gruppen abwandern.»
Letztlich jedoch sind beide zuversichtlich, dass es immer besser wird – und dass junge Männer und Frauen, die in religiösen Familien aufwachsen und plötzlich gleichgeschlechtliche Gefühle entdecken, es später einmal leichter haben werden als sie. Beide sprechen sich zudem dafür aus, Konversionstherapien zu verbieten, wie das im August auch die Rechtskommission des Nationalrats empfohlen hat. «Als Signal an alle. Dann überlegt man sich wohl zweimal, ob man wirklich etwas Verbotenes machen will», sagt Renato. «Zudem könnten solche Therapeut*innen dann auch angezeigt werden.» Dennoch zweifeln beide, dass sich ein solches Verbot wirklich durchsetzen lässt. «Was da passiert, wird ja nicht offiziell als Konversionstherapie angepriesen», sagt Mäth. «Das läuft unter dem Titel der Seelsorge und spirituellen Beratung – sowas komplett zu unterbinden, ist nahezu unmöglich.»
Gefragt ist Akzeptanz auf beiden Seiten
Mäth hat inzwischen auch noch eine andere Erfahrung gemacht, die ihn ziemlich irritiert. «Während ich in meinem christlichen Umfeld als Schwuler inzwischen ganz gut akzeptiert bin, tut sich das queere Umfeld mit meinem Glauben immer noch ab und zu schwer. Es wäre schön, wenn die LGBTQI*-Gemeinschaft, die ja von allen Toleranz und Akzeptanz einfordert, in dieser Hinsicht etwas offener wäre.»
Bereuen die beiden, dass sie zehn Jahre ihres Lebens sozusagen verschwendet haben mit dem vergeblichen Versuch, ihre Sexualität zu ändern? Beide schütteln einhellig den Kopf. «Es ist gut, wie es ist – und wer weiss schon, wie es sonst herausgekommen wäre», sagt Mäth. «Ich wäre möglicherweise komplett in der Schwulenszene versumpft, wenn ich diese Hürde nicht gehabt hätte.» Es sei zwar eine schwierige Zeit gewesen, ergänzt Renato. «Aber ich habe viel über mich gelernt, habe mich entwickelt. Ohne diese Zeit wäre ich nicht, wer ich heute bin.»