Bulgarien: Tödlicher Hass – Schöne Worte genügen nicht, um homophobe Gewaltverbrechen zu bekämpfen

update 19.09.2012: Online- und Briefaktion für Mihail Stoyanov, ermordet 30.09.2008

Homosexuelle leben gefährlich in Bulgarien. Nicht nur Worte, sondern Taten sind gefordert, um die Menschenrechten auch von LGBTI zu schützen. Hassverbrechen werden kaum verfolgt („Straflosigkeit“), LGBTI in Gesundheitsbereich, in der Bildung und bei der Polizei systematisch benachteiligt.
Amnesty International legt einen Bericht vor mit Analysen und Empfehlung an das Justizministerium, das Innenministerium, die Strafverfolgungsbehörden, die Polizei der Hauptstadt Sofia, das Bildungsministerium und das Gesundheitsministerium.

Amnesty Report: Changing Laws, Changing Minds – Challenging homophobic and transphobic hate Crimes in Bulgaria (Englisch, PDF, 16 p, 730 kB, EUR 15/001/2012, Bulgarisch)

Amnesty Video: Changing laws, changing minds (8 Min, Englische UT)

Amnesty News: Action, not just words, needed to tackle anti-gay hate crimes (Englisch)

“Was es wirklich braucht für Kinder in den Schulen ist, über Unterschiede aufgeklärt zu werden und zu lernen, dass Unterschiede voll in Ordnung sind und dass es nichts ausmacht, ob jemand schwul oder nicht schwul ist.” – Hristina Stoyanova, Mutter des Medinstudenten Mihail Stoyanov, der 2008 in Sofia wegen seiner vermuteten sexuellen Orientierung zu Tode geprügelt wurde.
(“What is really needed is for children in schools to be taught about difference and that difference is okay – that it does not matter whether someone is gay or not gay”)

Kroatien: Erschreckende Zunahme homophober und transphober Hassverbrechen (Juni 2012)
Moldau: Neues Antidiskriminierungsgesetz gilt nicht für LGBTI (Juni 2012)
Süd-Kaukasus: Virulente homophobe Angriffe gefährden Aktvist_innen (Mai 2012)
Russland: Beschämendes Niederknüpplen der Moskau-Pride muss ein Ende haben (Mai 2012)
Bulgarien: Behörden müssen Angriffe gegen LGBT-AktivistInnen untersuchen (Juni 2011)
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Hintergrund

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Bulgarien: Verbrechen aus Hass gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (Aktualisiert 1.10.2012)

In Bulgarien ist Gewalt gegen lesbische, schwule, bisexuelle und transgender Menschen leider weit verbreitet. Angriffe auf sie werden typischerweise von jungen Männern, „Neo-Nazis“ oder Skinheads, verübt, denen alle, die nur den Anschein anderer sexueller Identität oder Orientierung erwecken, als potentielle Ziele erscheinen.

Amnesty international liegen zahlreiche Berichte darüber vor, dass Personen geschlagen, vergewaltigt oder, in einem Fall, sogar ermordet worden sind.
Die meisten dieser Verbrechen sind nicht ordnungsgemäss untersucht worden und deshalb ungesühnt geblieben. Allzu oft werden die Vorfälle nicht einmal berichtet und angezeigt, weil die Opfer nicht erwarten, ernst genommen zu werden.
Bulgarien hat keine geeignete Gesetzgebung, die sich mit derartigen Verbrechen begangen aus Hass gegen Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Identität befasst. Das macht eine adäquate strafrechtliche Ermittlung und Verfolgung der Taten schwierig.
Hinzu kommen oft mangelndes Verständnis für den Umgang mit derartigen Verbrechen aus Hass sowie tiefsitzende Vorurteile gegen diese Menschen sowohl bei der Polizei und den Strafverfolgungsbehörden als auch in den Medien und der Regierung.
Dennoch setzen viele Mutige, individuell oder organisiert, ihren Kampf für ihr Recht zu leben, persönliche Sicherheit und Freiheit vor Diskriminierung für alle Menschen in Bulgarien fort.

Verbrechen aus Hass sind eine Form der Diskriminierung und können sogar tödliche Folgen haben

Mihail Stoyanov, 25 Jahre alt, Medizinstudent

Mihail verliess sein Haus in Sofia am Abend des 30. September 2008 und kam nie wieder zurück.
Als seine Mutter fünf Tage später zurückkam, bemerkte sie sein Verschwinden und wandte sich zusammen mit Mihails Bruder an die Polizei. Statt einer Auskunft wurden sie mit Fragen überschüttet, wer seine Freunde gewesen seien, ob er Drogen genommen und was er in seiner Jugend gemacht habe. Sogar die Familienwohnung wurde nach Drogen durchsucht.
Erst dann erfuhren sie, dass sein Leichnam im Borisova Park gefunden worden war.
Der Körper war von Kopf bis Fuss schwarz und blau, hatte überall Schwellungen und Blutergüsse. Sie hatten auf seiner Brust herumgetrampelt und ihm die Luftröhre gebrochen.
Im Jahre 2010 wurden zwei Verdächtige aus einer ganzen Gruppe verhaftet. Andere Mitglieder dieser Gruppe erzählten der Polizei, dass sie in dieser Nacht noch weitere 10 schwule Männer geschlagen hätten, um den Park davon zu ’säubern‘.
Die zwei Verdächtigen wurden wegen Totschlags aus Rowdy-Motiven beschuldigt, zunächst in Haft genommen, dann für zwei Jahre unter Hausarrest gestellt und schliesslich im April 2012 freigelassen. Der Fall ist noch immer anhängig, und es sind keine Gründe für die prozedurale Verzögerung erkennbar.
Mihails Mutter brachte am Fundort der Leiche, den sie im grössten Park Sofias selber herausfinden musste, ein Bild ihres Sohnes an. Mit Blick auf dieses Bild fragt sie sich: ‚Was an ihm sieht schwul aus? Hat er ein Erkennungszeichen dafür an sich? Und selbst wenn, mir wäre es egal.‘

Angriff nach dem Sofia Pride im Juni 2011

Ivelina, Kaloyan, Kristina, Mitko und Svetlio hatten nach der Demonstration schon bereitwillig ihre Kleidung gewechselt und waren auf dem Nachhauseweg, als eine Gruppe junger Männer sie von hinten angriff. Die beiden Frauen konnten relativ unverletzt entwischen, die drei Männer jedoch wurden geschlagen und zu Boden gestossen. Am Morgen danach erhielten sie über Facebook Hassnachrichten wie z. B. ‚Stirb, warmer Bruder!‘.
Die Polizei erkannte diesen Zusammenhang allerdings nicht an. Sie zeigte ihnen stattdessen hunderte Photographien von Fussball-Hooligans, unter denen die Verdächtigen aber nicht zu finden waren. Die überwachungskamera eines Alkoholladens zeigte zwar vier junge Männer laufen, anscheinend um jemanden zu verfolgen, aber die Aufnahme war zu unscharf.
Mögliche andere Videoaufnahmen von einer Reihe von Botschaften in der betreffenden Gegend wurden erst gar nicht angefordert.
Der Fall sei nicht wichtig genug gegenüber den anderen Prioritäten bei der Verfolgung von Straftaten. Im übrigen seien auch die Veranstalter des Pride für die Sicherheit der Teilnehmer_innen verantwortlich.

Transphobe Gewalt

Noch mehr als Lesben, Schwule und Bisexuelle erfahren transgender Menschen körperliche Gewalt, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen. Dies vor allem, weil sie oft nicht in der Lage sind, die medizinischen Behandlungen zu erlangen, die für ihre Geschlechtsangleichung notwendig wären. So sind sie deutlich erkennbar und daher häufiger Ziel von Gewalt und Diskriminierung.
Das fängt bei Schmähungen etwa in der Strassenbahn an, setzt sich fort über Probleme, eine Arbeit zu finden, und endet eben bei körperlichen Angriffen.
Viktoria beispielsweise ist eine transgender Roma und Sexarbeiterin – oft bleibt nur dies um zu überleben. In 2004 ging sie eines Abends zum Haus ihrer Schwester zurück, als ein Mann sie so schwer schlug, dass sie mit 20 Stichen genäht werden musste. Das Krankenhauspersonal informierte nicht einmal die Polizei, obwohl es dazu verpflichtet gewesen wäre.
Mila, eine frühere Sexarbeiterin, erzählt, dass sie vor acht Jahren einmal von einem Mann in eine Wohnung mitgenommen wurde und dort zwei Tage lang von ihm und weiteren fünf Männern vergewaltigt und geschlagen wurde. Als sie danach zur Polizei ging, sagte man ihr, sie habe da ja herausgefordert, und leitete keine Untersuchung ein.

Verbreitete Diskriminierung und lückenhafte Gesetzgebung

Diese Beispiele zeigen, dass bei Polizei, Staatsanwaltschaften und sogar beim medizinischen Personal in Krankenhäusern diskriminierende Grundhaltungen und Vorurteile gegen homophile und transgender Menschen weit verbreitet sind.
Diese Haltung führt dann eben oft dazu, dass Vorfälle wie die geschilderten übergriffe nicht als Verbrechen aus Hass gegen diese Menschen wahrgenommen und strafrechtliche Ermittlungen verschleppt oder gar verhindert werden.
Auch das bulgarische Strafgesetz leistet seinen Beitrag zu dieser phlegmatischen Einstellung. Denn es stellt zwar Verbrechen aus Hass und sonstige diskriminierende Handlungen aus Gründen der Nationalität, Rasse, Religion oder politischen überzeugung unter Strafe, nicht aber aus Hassgründen wegen der sexuellen Orientierung oder der Geschlechteridentität.
Daran ändert nichts, dass seit 2002 gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen entkriminalisiert wurden und im Jahre 2004 das Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung auch aus Gründen der sexuellen Orientierung in Kraft trat.
Immerhin liegt seit April 2012 ein Gesetzesvorschlag zur änderung des Strafgesetzes vor, das Hassverbrechen wegen der sexuellen Orientierung von Menschen aufgenommen hat.
Selbst wenn Bulgarien auf diesem Wege weiter geht: Gesetze alleine genügen nicht; es muss daneben eine Bewusstseinsänderung in den Köpfen der Menschen erreicht werden, insbesondere derjenigen bei der Polizei und in der Justiz.

Amnesty International fordert daher

vom Minister für Justiz, für Inneres und dem Ministerrat

  • sicherzustellen, dass sexuelle Orientierung und Geschlechteridentität als Strafverfolgungsgründe von Hassverbrechen im Strafgesetz verankert werden
  • das Diskriminierungsschutzgesetz von 2004 zu ändern und die Geschlechteridentität als Diskriminierungsgrund aufzunehmen
  • zu gewährleisten, dass Hassverbrechen aus diesen Gründen vollständig untersucht und die Täter vor Gericht gebracht werden
  • fortwährende Trainingseinheiten für das Personal auf allen Ebenen bei Polizei und Justiz zu den betreffenden Menschenrechten sowie zu effizienter und umfassender Strafverfolgung derartiger gewaltsamer übergriffe einzuführen
  • mit LGBT- und Menschenrechtsorganisationen zusammenzuarbeiten, um Menschen zu ermutigen, solche Verbrechen anzuzeigen, sie vor Gericht zu bringen, und den Opfern Wiedergutmachung zu gewähren
  • eine Kampagne zu initiieren, die das Bewusstsein der öffentlichkeit verändert und Gewalt gegen diese Menschen als nicht akzeptabel brandmarkt
  • alle Daten zu angezeigten Hassverbrechen und deren Strafverfolgung zu erfassen

von den Strafverfolgungsbehörden und von der Sofioter Polizei

  • sicherzustellen, dass alle Hassverbrechen, auch die hier erwähnten Fälle vollständig und effektiv untersucht werden
  • aktiv, unparteiisch und effizient alle Berichte über Hassverbrechen aus Gründen der sexuellen Orientierung oder der Geschlechteridentität zu untersuchen und die Sicherheit in gefährdeten Bereichen wie etwa Borisova Park zu gewährleisten
  • ein Datenerfassungssystem aufzubauen, das derartige Hassverbrechen und ihre diskriminierenden Motive enthält

vom Kultusministerium

  • in die Lehrpläne das Bewusstsein über Homophobie sowie den Unterschied der sexuellen Orientierung und Geschlechteridentität aufzunehmen
  • vom Gesundheitsministerium
  • Trainingsprogramme für das medizinische und administrative Personal umzusetzen, die den adäquaten Umgang mit und die korrekte Behandlung von Personen zum Gegenstand haben, die nach einem Verbrechen wegen ihrer Identität ein Trauma erlitten haben könnten

Bitte beteiligen Sie sich an unserer Online-Petition (siehe unten stehender Link) und fordern Sie damit den zuständigen Staatsanwalt Dragomir Yanchev auf, im Falle des ermordeten Mihail Stoyanov für Gerechtigkeit zu sorgen und gegen die Verdächtigen Anklage zu erheben!

Bitte Brief schreiben und einsenden Brief gegen das Vergessen (Amnesty Deutschland) und unten: Musterbrief (Englisch)
Online-Brief: Bring the killers of Mihail Stoyanov to justice (Amnesty Irland, Englisch)

Quelle Deutsch: Amnesty Netzwerk Osteuropa (1.10.2012)